Was erzählt Fotografie über die Lebenserfahrungen des Einzelnen angesichts eines radikalen Wandels der Gesellschaft? Welche Bildsprachen erfindet eine jüngere Generation von Kunstschaffenden in China auf der Suche nach dem eigenen Selbstverständnis?

Eine Auswahl von siebzig Fotografien aus den letzten zwanzig Jahren von vierzehn chinesischen Künstlerinnen und Künstlern präsentiert die Ausstellung – allesamt Arbeiten, die Dr. Eva-Maria Fahrner-Tutsek auf ihren zahlreichen Reisen nach China für die Stiftung erworben hat.

Nach Robert Rauschenbergs großer Serie in der letzten Ausstellung „Study for Chinese Summerhall“ aus dem Jahr 1983 mit ihrem westlichen Blick auf das Land zeigen diese Fotografien nun Innenansichten der im Land lebenden Kunstschaffenden. Ihre Themen kreisen um Selbstwahrnehmung, subjektive Erfahrungen und alltägliche Lebensformen. Sie reichen von der Dokumentation des explosionsartigen sozialen Wandels über die kritische Wahrnehmung der neuen Bedingungen des Lebens in den Metropolen und auf dem Land bis zur Aufmerksamkeit für das verschwindende kulturelle Erbe. Ob in stiller dokumentarisch anmutender Schwarz-Weiß-Ästhetik oder als dramatische Inszenierung in Farbe, sie alle erzählen von den Erfahrungen der Kunstschaffenden selbst, „About Us“. Mit Themen wie Erinnerung und Geschichte, Melancholie und Widerstand, Traum und Vision, Körper und Individualität handeln sie von der Suche nach der eigenen Identität. Sie sind Spiegel von Wunschvorstellungen und Ängsten, Isolation und Lebenslust, Neugierde und Depression, von Coolness und Konfusion ihrer Autoren.

Eine neue Generation von Künstlerinnen und Künstlernhatte in den 1980er und 1990er Jahren nach dem Ende der Kulturrevolution in China einen fundamentalen Wandel der künstlerischen Produktion vollzogen. Nach sozialem Realismus, Ideologie und Propaganda entwickelte sie neue Konzepte und Bildsprachen und eine Fülle von Stilen und Techniken. Der Begriff „Experimentelle Fotografie“ versucht, die komplexen und sehr unterschiedlichen experimentellen und konzeptuellen Arbeiten, die seit den 1990er Jahren bis heute entstanden sind, zusammenzufassen. Deren Vielfalt spiegelt sich in der Auswahl der in der Ausstellung repräsentierten Kunstschaffenden, von denen einige international renommiert, andere außerhalb Chinas weitgehend unbekannt sind.

Die Gegensätze zwischen den aktuellen sozialen Bedingungen in China und den klassischen kulturellen Mustern inszeniert Yang Fudong (geboren 1971), einer der bedeutendsten Repräsentanten zeitgenössischer Kunst in China, insbesondere durch seine Filme. Chen Ronghui (geboren 1989) dokumentiert in Langzeitprojekten den Prozess der Urbanisierung und dessen Einfluss auf das Leben des Einzelnen. Seine Serie „Freezing Land“ (2016 – 2018) erzählt die Geschichte vom heutigen Nordosten Chinas, dessen einst blühende Wirtschaft seit der Jahrtausendwende dramatisch zusammenbrach. Birdhead, das Künstlerpaar Song Tao (geboren 1979) und Ji Weiyu (geboren 1980), erinnert mit seinen konzeptuellen Arbeiten an Verdrängtes in der jüngsten Geschichte Shanghais. Es widmet sich den alltäglichen Dingen, nicht in Nostalgie, sondern als visuelle Gegenentwürfe zur neuen extravaganten Modernität. RongRong (geboren 1968) hält die künstlerischen Aktivitäten des Beijing East Village Kollektivs fest, einer Gruppe junger Künstler, der er angehörte. Insbesondere deren alltägliches Leben und radikale Performances dokumentiert er, bevor das Viertel am östlichen Stadtrand von Peking 1995 zwangsweise geräumt wurde. In ihrer Serie „Liulitun“(2000 – 2003) inszenieren RongRong und die japanische Fotografin Inri die persönlichen Erinnerungen ihres Zusammenlebens als Künstler, Paar und Familie an dem gleichnamigen Ort, bevor dieser zerstört wurde. Ihre Bilder verstehen sie als ästhetischen Widerstand gegen das gewaltsame Eindringen der Staatsmacht.

Einige der Fotografen der Ausstellung halten ihre persönlichen Erinnerungen fest, als seien ihre Werke historische Zeugnisse jener Vergangenheit selbst. In verblassenden Schwarz-Weiß- und Sepiatönen und mit Kratzern und anderen Spuren des Gebrauchs wirken sie wie Fundstücke. Dazu zählen die auf Polaroids basierenden Arbeiten von Zhang Xiao (geboren 1981) mit ihren aneinandergereihten Bildfragmenten von Kindheit und Heimat („Grandma Liu Picking Apples“, 2013), „Mother and Neighbors“, 2015). Und auch die Schwarz-Weiß-Fotografien von Adou (geboren 1973) erscheinen in Motiven und Ästhetik wie Dokumente einer Suche nach der verlorenen Zeit und verschollenen Orten. In entlegene Provinzen war Adou gereist und in die dörfliche Gemeinschaft seiner Kindheit, um unberührte Natur und Introspektion zu finden. Wie Szenen aus dem Drama eines Stummfilms wirkt die Schwarz-Weiß-Serie „Some Days“(entstanden zwischen 1999 und 2009) von Wang Ningde (geboren 1972): Er fotografierte all seine Protagonisten mit geschlossenen Augen – Ausdruck von Traum oder Alptraum, Meditation oder Flucht, surrealen Zwischenwelten des Glücks oder der Resignation.

Vom Gefühlsleben seiner Generation, von Freundschaft, Liebe, Angst und Einsamkeit erzählt Ren Hang (1987 – 2017) in seinen Farbfotografien von jungen Frauen und Männern. Mit der Inszenierung ihrer Nacktheit und seiner Darstellung der Geschlechterrollen rührt er an Tabus der traditionalen chinesischen Gesellschaft. Die Frage nach der Rolle der Frau und sexueller Orientierung wie ökonomischer Ungleichheit stellt diejunge Fotografin Liang Xiu (geboren 1994), die ihre private Sphäre und soziale Umgebung – fern der großen Städte und an den Rändern der Gesellschaft – ins Bild rückt. Es sind vielfach Selbstportraits in narrativen Kontexten. Hingabe an die Sprache des Körpers und Erzählungen von zwischenmenschlichen Beziehungen finden sich bei Gao Mingxi (geboren 1992). Sorgfältig über lange Zeit inszeniert, surreal in Licht und Farben, erschafft Chen Wei (geboren 1980) fiktive Gegenwelten, nächtliche Fluchtorte der Sehnsucht wie mit den Arbeiten „Disco #1006“ (2015), „Dance Hall“, (2013) und „In the Waves #2“ (2013).

Die Ausstellung versteht sich als ein Beitrag zum Diskurs über die gegenwärtige Fotografie in China, einem Land, das zunehmend als wesentliche globale politische und wirtschaftliche Macht in Erscheinung tritt, dessen Bilderwelten im Medium der Fotografie in der westlichen Hemisphäre jedoch wenig bekannt sind. Jene Bilder mit ihren autobiographischen Erzählungen, ihren subjektiven Vorstellungswelten, Gegenentwürfen und Visionen geben einen Einblick in die individuellen komplexen Gefühls- und Erfahrungswelten einer jüngeren Künstlergeneration, die auf der Suche nach ihrer Identität in den Turbulenzen der sich wandelnden Gesellschaft die Fotografie in vielfältiger Weise als ihr Medium nutzt.


Öffnungszeiten:
Dienstag - Freitag: 14:00 - 18:00 Uhr

Weitere Informationen direkt unter: atutsek-stiftung.de

04.06.2020 - 29.01.2021

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