In welchem Verhältnis steht das Kunstwerk zur Wirklichkeit, die es abbildet? Bezieht es sich auf eine äußere Realität oder führt es uns ein abstraktes Geschehen vor Augen? Was wissen wir über die Umstände seiner Entstehung? Und nicht zuletzt: Wie entsteht das Bild, das wir uns von einem Bild machen? Die Neupräsentation sammlung mit losen enden 06 reflektiert diese Fragen und steht unter dem Motto Drei Seiten des Bildes. Während die Vorderseite eines Werkes Fragen von Gestalt und Fläche gewidmet ist, erzählt die Rückseite – mit Angaben zu Künstler, Datum, Vorbesitzern oder Ausstellungsgeschichte – uns etwas über die Entstehungsgeschichte und damit den Kontext des Bildes. Ein dritter, immaterieller Aspekt des Kunstwerks ist eng mit der Wahrnehmung des Betrachters verknüpft: Es eröffnet sich ein Bildraum, in den Imaginäres einfließt und eine Vorstellung, ein Gedankenraum entsteht.

Der Rundgang durch die Ausstellung gliedert sich entlang dieser drei Aspekte und versammelt Werke von 1912 bis in die jüngste Gegenwart. Beginnend mit der »Rückseite« folgt er einer Dramaturgie, die die Erzählung von den drei Seiten des Bildes mit den kunstgeschichtlichen Entwicklungen hin zur Abstraktion verschränkt. Auf den Rückseiten der Kunstwerke sind oft Zettel oder Stempel angebracht, die auf die Provenienz hinweisen. In einigen Fällen zeigen sie aber auch übermalte Bilder, zweitverwendete Leinwände, Adressangaben oder Materialeigenschaften, die sogar auf die Biografie der Künstlerin oder des Künstler verweisen. Wie und wo, unter welchen Umständen haben sie gearbeitet? Auf den Rückseiten hat sich der Staub der Geschichte abgelagert, sie verraten etwas über die Entstehungsumstände der Bilder. Wendet man zum Beispiel das Werk Turner in der Halle von Johannes Geccelli, so ist sichtbar, dass dieser das Ölgemälde in der Nachkriegszeit, im Jahr 1949, auf den Stoff eines amerikanischen Mehlsacks malte. Das Werk steht für die Anfänge der Sammlung wie für den Neubeginn der modernen Kunst nach 1945.

In der Ausstellung zu entdecken sind Highlights der Sammlung ebenso wie Neuerwerbungen der letzten Jahre. Neben einem Weltempfänger von Isa Genzken ist ein poppigpunkiges Selbstporträt der Künstlerin zu sehen. Ein Raum ist dem Duüsseldorfer Maler Imi Knoebel (*1940 Dessau) gewidmet mit einem bisher noch nie ausgestellten Werk aus den 1980er Jahren. Ein anderer reflektiert Bilder des Krieges. Der hier ausgelegte Flokati-Teppich von Vera Drebusch sieht aus wie ein gemütliches 50er Jahre-Relikt, verdankt sein dekoratives Muster jedoch Satellitenaufnahmen eines Truppenübungsplatzes. Camilo Sandoval setzt sich einmal mehr mit dem Bürgerkrieg in seinem Heimatland Kolumbien auseinander. Er nutzt und untergräbt gleichzeitig Bilder und Codes, indem er traditionelle bunte Häkeltäschchen produzieren lässt – doch statt folkloristischer Muster erkennen wir Kriegs- und Protestmotive.

In der Bibliothek treffen optische Experimente der 1960er Jahre auf die Installation Shapes of Possibility aus skulpturalen Künstlerbüchern von Felicitas Rohden. In dieser verknüpft sie neue wissenschaftliche Erkenntnisse über die menschliche Wahrnehmung mit bildnerischen Traditionen.

Auch im dritten Ausstellungskapitel trifft man auf neue künstlerische Interventionen in der Sammlung. Im Kaisersaal ist Johannes Wohnseifers Installation Bilderberg in einer neuen Zusammenstellung zu sehen. In seiner komplexen Arbeit What has B i l d e r b e r g to do with Black Helicopters, die der Künstler 2003 ursprünglich für eine Ausstellung im Aachener Kunstverein entwickelt hatte, setzt sich Wohnseifer assoziativ mit der politischen Macht der Bilder im Kopf und den daraus entstehenden Verschwörungstheorien auseinander. In der Mitte des Assoziationsgeflechts ist eine schwarz bemalte Spielplatzburg zu entdecken. »The world is ruled form this secret room«, heißt es ironisch auf einem Gemälde des Künstlers.

Mit seiner fragmentarischen Neuinterpretation reagiert Johannes Wohnseifer auf unsere Erfahrungen mit der Macht der Bilderflut und Verschwörungstheorien, die in den letzten Jahren ungeahnte Wirkungen entwickelt haben.

Die Lichtinstallation Amit Goffers X marks the spot aus der Ausstellung God's Biometric Data wurde angekauft und wird nun erstmals im Kunsthaus präsentiert. Die Arbeit, die sich spielerisch mit Modellen der Weltentschlüsselung auseinandersetzt, ist im Oratorium installiert, dessen Deckengemälde noch das mittelalterliche Weltbild spiegeln. So wie X marks the spot ist auch der Förderankauf Rheingold von Alex Wissel im Jagdzimmer erstmals zu sehen. Auf einem Monitor mitten in den leuchtenden Sternen eines Eurozeichens laufen alle drei Filme seiner Rheingold-Serie, in der sich Wissel an den Mythen um den Wert der Bilder abarbeitet und den Kunstbetrieb rund um den Kunsthändler Helge Achenbach parodiert.

Im Zusammenhang mit den – in der Regel verborgenen – Rückseiten gerät auch eine weitere Frage in den Blick: Woher kommen eigentlich die Bilder der Sammlung des Kunsthauses NRW? Als diese im Jahr 1948 gegründet wurde, erwarb man die meisten Werke direkt bei den Künstlerinnen und Künstlern. Es ging darum, ihnen durch Förderankäufe das Leben und Arbeiten zu ermöglichen und nach dem Kahlschlag der Nationalsozialisten wieder an die abgeschnittene Moderne anzuschließen. Einige Kunstwerke wurden zwischen 1959 und 1964 im Kunsthandel erworben, um die Vorgeschichte der modernen Kunst vor 1945 dokumentieren zu können.

Im Bestand der Sammlung befinden sich aber auch Werke, die 1948 von der neu gegründeten Landesverwaltung von der Vorgängerverwaltung übernommen wurden und in den 1930er Jahren für Propagandazwecke angeschafft worden waren. Die Bilder wurden damals systematisch erfasst, Porträts Hitlers oder offensichtliche Propaganda-Bilder entfernt. Aber nicht jedes Propaganda-Bild wurde in der Kürze der Zeit erkannt und entsprechend deklariert. Die meisten der übernommenen Bilder hatte die preußische Landesverwaltung seit 1900 zur Dekoration der öffentlichen Gebäude erworben; einige wurden zwischen 1933 und 1945 erworben oder in Auftrag gegeben. Sie sind nach der traditionellen, naturalistischen Kunstauffassung ausgewählt, die von der Reichskammer propagiert wurde. Im Bestand der Sammlung befinden sich jedoch auch mehrere erhaltene Propaganda-Bildwerke, die mehr über die Ideologie jener Zeit verraten. Auf einem Kunstwerk steht der Vermerk: ehemals Sammlung Hermann Göring.

Die neue Sammlungspräsentation stellt auch diesen komplexen Erbfall zur Diskussion.

lex Wissel, Rheingold, seit 2016, Installation, Video © der Künstler, Foto: Marcel Schumacher
14.05.2023 - 25.02.2024

sammlung mit losen enden 06: drei seiten des bildes

Kunsthaus NRW

Abteigarten 6
52076 Aachen – Kornelimünster