Mit „Ein Augenblick im Niemandsland“ zeigt das Marta Herford die bis dato größte institutionelle Einzelschau der deutschen Fotografin und Filmemacherin Annette Frick (*1957 in Bonn, lebt und arbeitet in Berlin). Seit den frühen 1980er Jahren porträtiert sie Künstler*innen, Musiker*innen, Tänzer*innen, Schriftsteller*innen etc., insbesondere aus Subkulturen und dem Berliner Underground und bildet in ihren Fotografien und Videoarbeiten Themen von Identität, Darstellung und Repräsentation ab. Die Ausstellung umfasst knapp 140 Fotografien und Videos aus über 30 Schaffensjahren der Künstlerin, die zwar in der Underground-Kunstszene fest verortet ist, für das breitere Kunstpublikum dennoch eine Entdeckung sein wird.

Die bekannteste Serie von Annette Frick „Fuck Gender“ (seit 1990) bildet den Kern der Ausstellung. Zu sehen sind hier zahlreiche Ikonen der Trans- und Dragszene, wie unter anderem Vaginal Davis, Mario Montez, Gunter Trube, Juwelia, BeV StroganoV oder Evi aka Bearboy und Peaches. Die Aufnahmen entstehen auf Partys, bei Performances auf der Bühne aber auch im Backstage-Bereich. Dabei sind die beeindruckende Nähe und Authentizität der Bilder, die durch die persönliche Bindung zwischen Künstlerin und Dargestellten, ihre Wertschätzung und Sensibilität erwachsen sind, besonders charakteristisch: „Annette streichelt einen mit ihrer Kamera“, wie es eine*r der Porträtierten einmal ausdrückte. Ebenso feinfühlig und individuell abgestimmt ist immer auch der Abzug, der in Schwarz-Weiß-Verfahren, in der Regel von Hand als Silbergelatineabzug auf Barytpapier oder als fein austarierter Tintenstrahldruck ausgeführt wird. Über 50 Fotografien dieser Serie sind in großflächiger, spielerischer Hängung im Marta Herford zu sehen.

Rollenbilder und Inszenierung sind auch Thema Annette Fricks Selbst-, zumeist Aktporträts. Das Wechselspiel zwischen Verletzlichkeit und Konfrontation, wie es in der großformatigen Serie „Die Schlangengöttin“ (1990) zu beobachten ist, verhandelt Grundsatzfragen im Machtgefüge von Porträtbildern, die an patriarchalen und hegemonialen Strukturen rütteln. Frick nimmt als Schlangengöttin eine mythologische Figur in den Blick, die ein starkes Frauenbild repräsentiert. Mythen von Schöpfung und das Hinterfragen weiblicher Rollenbilder liegen auch dem Zyklus „Aus dem Wasser“ (2007/08) zugrunde, die auf Figuren wie Undine oder die biblische Figur Lilith Bezug nehmen, aber auch den Körper in Einklang mit der Natur inszeniert zeigen. Auch „Ein Augenblick im Niemandsland“ (2011) greift letzteres Thema auf. Die zweiteilige Arbeit zeigt Frick nackt in der surreal erscheinenden Landschaft des zugefrorenen Müggelsees. Hier eröffnet sich auch ein Bezug zur Kunstgeschichte: Auf einem der Fotos sieht man eine mit Licht eingezeichnete Spirale, welche die berühmte Arbeit „Spiral Jetty“ (1970) des Land-Art Künstlers Robert Smithson zitiert und aus feministischer Perspektive aneignet.

Neben Fotografien hat Annette Frick Experimental- und dokumentarische Filme realisiert, die schon vielfach auf Festivals gezeigt wurden. Für die Ausstellung wurden zwei Kurzfilme ausgewählt: So ist „Ein Augenblick im Niemandsland“ (2011) ebenso der Titel einer Fotoserie wie einer Videoarbeit. Eine weitere filmische Arbeit wird in der Ausstellung als immersive Rauminstallation inszeniert: „Cosmic Elements“ (2002-03) basiert auf Fotogrammen von Pflanzenkapseln und -samen, ebenso wie menschlichem Sperma. Schöpfung und Reproduktion werden auf diese Weise sowohl auf biologischer wie auf fotografischer bzw. bildnerischer Ebene verhandelt.

Annette Frick zog in der Nachwende-Zeit nach Berlin und verfolgte mit der Fotoserie „Nix…Meta…Meta…Schwupp…Weg…Is…Et“ (seit 1996) den Wandel des Stadtraums. Mithilfe von Bildcollagen führt Frick die Betrachter*innen auf einen Streifzug an unterschiedliche Orte Berlins sowie des Umlands und hält Momente in der urbanen Architektur fest, deren vermeintlich feste Fügung sich angesichts von Abriss und Neubau stetig verändert. Sie analysiert mit dieser Serie u.a. wann Architekturen der Zeit des Nationalsozialismus, aber auch der DDR-Zeit verschwinden und dokumentiert auf diese Weise ein Berlin, das es so heute gar nicht mehr gibt.

Das Wandeln durch Räume kommt auch in der poetisch geprägten Arbeit „Spuren im Schatten eines Phantoms“ (2017) zum Tragen. Ausgangspunkt dieser Serie bildet André Bretons Roman „Nadja“ aus dem Jahr 1928, ein Schlüsselwerk in den Kreisen der Surrealisten. Für Frick war dieses Werk nicht nur aufgrund der darin inhaltlich integrierten Fotografien und Zeichnungen interessant, sondern auch bezüglich des historischen Hintergrunds, der auch eine Geschichte unzureichend wahrgenommener Frauenfiguren schreibt. Frick suchte in Paris die Orte des Romans und solche, die mit scheinbar verborgenen Frauenfiguren in Verbindung stehen, auf und inszenierte dort die Künstlerin und Schauspielerin Mado. Sie trägt eine Giraffenmaske, die sie als Symbol für die ungehörte Frau versteht, da die Tiere auf Tonfrequenzen kommunizieren, die für Menschen nicht hörbar sind.

Annette Fricks Werk liegen Fragen der Sichtbarkeit und der Selbstbestimmtheit nicht nur thematisch, sondern auch strukturell zugrunde. Vorrangig in der subkulturellen Szene aktiv und in ihren Nischen eng vernetzt, präsentierte Frick ihre Arbeiten bereits auf zahlreichen Filmfestivals und hatte Ausstellungsbeteiligungen in vielen bedeutenden Institutionen. Mit dem Projektraum CasaBaubou, den sie in ihrem Atelier gemeinsam mit Wilhelm Hein betreibt und dem Magazin „Jenseits der Trampelpfade“ bietet sie auch selbst Raum für Repräsentation, und zwar bewusst abseits des bisweilen kommerziell geprägten Mainstreams.

Biografisches
Annette Frick wurde 1957 in Bonn geboren. Von 1978 bis 1988 studierte sie Bildende Kunst an der Fachhochschule für Kunst und Design, Köln, bei Arno Jansen, Daniel Spoerri und Robert van Ackern und schloss hier 1988 als Meisterschülerin ab. Daneben war sie als Fotografin für verschiedene wissenschaftliche Institute tätig und veröffentlichte Texte zu Kunst und Fotografie. In ihrem Kölner Atelier gründete sie mit Achim Riechers und Doris Frohnapfel den Ausstellungsort „Hafensalon“. 1996 zog Annette Frick nach Berlin, wo sie die Queer- und Punksubkulturen fotografisch einfing. 2007 gründete sie dort gemeinsam mit dem Experimental-Filmemacher und Kunsthistoriker Wilhelm Hein, mit dem sie schon seit 1992 das Fanzine „Jenseits der Trampelpfade“ publiziert, den Projektraum CasaBaubou.

1988 erhielt sie das Stipendium für zeitgenössische Deutsche Fotografie der Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung, 2008 ein Recherche Stipendium der DEFA Stiftung für den Film über den an HIV verstorbenen Fotografen Herbert Tobias „Leicht muss man sein, Fliegen muss man können“, der 2011 im Panorama Programm der Berlinale gezeigt wurde. Des Weiteren erhielt Annette Frick 2021 ein Stipendium der Pollock Krasner Foundation, New York. Sie war an Gruppenausstellungen u.a. im Museum Ludwig Köln (2006), im Fotomuseum Winterthur (2008), im DANK Haus German America, Chicago (2011), im n.b.k Berlin (2018), in der Kunsthalle Düsseldorf (2019) und in der Akademie der Künste Berlin (2022) beteiligt. Einzelausstellungen fanden etwa im Grassi Museum Leipzig (1993), im Kölnischen Stadtmuseum (1997 und 2014), im Grafischen Kabinett des Märkischen Museums Berlin (2019) oder im Museum Reinickendorf, Berlin (2021) statt.

Begleitprogramm
Im begleitenden Programm zur Ausstellung ist die Szene rund um Annette Frick direkt zu erleben. Gleich zur Eröffnung am 05.05. erwartet die Besucher*innen eine Performance der Travestiekünstlerin und „ewigen Underground-Diva“ Juwelia Soraya, die Modell für viele Fotografien Annette Fricks war. Bekannt ist sie unter anderem als Protagonistin in Rosa von Praunheims Dokumentarfilm „Überleben in Neukölln“ (2017), für den sie auch den Soundtrack lieferte. Als feste Größe in der Berliner Drag- und Underground-Szene gibt Juwelia allwöchentlich ein Programm (mit und ohne Gäste) in ihrer Neuköllner Galerie Studio St.St. zum Besten. Dort präsentiert sie auch ihr künstlerisches Schaffen. Ebenfalls auf den Fotografien zu sehen sind Evelyn Rüsseler aka Bear Boy und Ruvi Simmons, die gemeinsam im Programm zum Internationalen Museumstag am 21.05. eine Lesung geben werden. Evelyn Rüsseler ist Zeichnerin, Filmemacherin und Autorin – seit 2022 mit eigenem Verlag Stampa Bear Boy. Ruvi Simmons erforscht als Künstler die Schnittstellen zwischen Fotografie, Video, Performance und Installation. Seine Poesie, die unverkennbar in der Tradition des britischen Dandyismus steht, wurde bereits in Zeitschriften in ganz Europa und den Vereinigten Staaten veröffentlicht. Er selbst gibt die Zeitschrift „Alala“ heraus und arbeitet derzeit an seinem ersten Roman mit dem vorläufigen Titel „The Nettle Fiasco“ („Das Brennnessel-Fiasko“). Außerdem wird im Rahmen der Ausstellung eine dialogische Führung mit Katharina Bosse, Fotografin, Professorin an der Hochschule Bielefeld sowie Kuratorin des Kunstraums Elsa in Bielefeld, stattfinden. In einem Künstlerinnengespräch zur Finissage wird Annette Frick vertiefende Einblicke in ihr Schaffen gewähren.

Zum Ausstellungsende erscheint eine Publikation, welche die Inhalte der Ausstellung reflektiert und damit einen ersten vertieften Einblick in das mehrjährige Schaffen von Annette Frick gibt. Neben einer Einführung von Kathleen Rahn wird es einen Essay von Florian Ebner (Direktor der Abteilung Fotografie am Centre Pompidou in Paris) und weitere Beiträge geben. Die Publikation wird von der Akademie der Künste aus den Mitteln des Ellen-Auerbach-Stipendiums unterstützt.


Öffnungszeiten:
Dienstag: 11:00 - 18:00 Uhr
Mittwoch: 11:00 - 20:00 Uhr
Donnerstag  - Sonntag (Feiertage): 11:00 - 18:00 Uhr
Montag: geschlossen

Weitere Informationen direkt unter: marta-herford.de