Vom Leben in Industrielandschaften – Eine fotografische Bestandsaufnahme ist der erste Teil und damit der Auftakt zu einem zweiteiligen Ausstellungsprojekt, das sich mit künstlerischen Darstellungen von Industrielandschaften im ländlichen Raum auseinandersetzt. Welche Erfahrungen haben Menschen in Industrielandschaften? Welche Formen der Identifikation oder der Distanz, der Ideologisierung oder der Kritik prägen diese Ansichten? Welche Lebensräume werden beschrieben? Welche Entwicklungsmöglichkeiten eröffnen sie? 

Ausgangsmotiv des Ausstellungsprojekts ist das für die Sammlung des Leopold-Hoesch-Museums ikonische Gemälde „Das Lendersdorfer Walzwerk“ von Carl Schütz (1796-1845) aus dem Jahr 1838. Das Bild der Fabrik der Familie Hoesch in Düren-Lendersdorf ist ein typisches Beispiel für das ausgeprägte Selbst-bewusstsein und die Art der Selbstdarstellung von Industriellenfamilien zur Zeit der frühen, hiesigen Industrialisierung. Bis heute ist die Landschaft um Düren, zwischen Garzweiler und den Stauseen der Eifel, durch ihre industrielle Nutzung geprägt. Die Ausstellung Vom Leben in Industrielandschaften ist eine Einladung, sich mit den eigenen Wahrnehmungen dieser Landschaft auseinanderzusetzen, mit den widersprüchlichen und komplexen Räumen, die sich zwischen Tagebau, Kraftwerken und Hochspannungsmasten, Papierfabriken, Zuckerrübenäckern und dem relativ nahen Kernkraftwerk Tihange öffnen. Von diesen Überlegungen ausgehend werden die Beziehungen zu Industrielandschaften an anderen Orten der Welt, wie der Lausitz, den Alpen oder Fukushima, in den Blick genommen. 

Die für Vom Leben in Industrielandschaften – Eine fotografische Bestandsaufnahme grundlegende Frage, inwiefern Fotografie der Komplexität sozialer Realität gerecht werden kann, ist eine mit der Geschichte des Mediums zutiefst verbundene. So ist Berthold Brechts Aussage über eine Fotografie von Albert Renger-Patzsch (1897-1966) als Zitat in Walter Benjamins „Kleine(r) Geschichte der Photographie“ berühmt geworden. Dort heißt es: „Eine Photographie der Kruppwerke oder A.E.G. ergibt beinahe nichts über diese Institute. Die eigentliche Realität ist in die Funktionale gerutscht. Die Verdinglichung der menschlichen Beziehungen, also etwa die Fabrik, gibt die letzteren nicht mehr heraus.“ 

Angefangen mit den Aufnahmen August Sanders (1876-1964) und Albert Renger-Patzschs aus den 1920er und 1930er Jahren bis hin zu zeitgenössischen Positionen versammelt Vom Leben in Industrielandschaften – Eine fotografische Bestandsaufnahme Künstler*innen, die sehr unterschiedliche fotografische Herangehensweisen entwickelt haben, um die Lebensrealität von Industrielandschaften einzufangen, spezifische Raumerfahrungen und das jeweilige Verhältnis zwischen Mensch und Landschaft abzubilden. So dokumentiert Albert Renger-Patzsch in seinen räumlich differenzierten Aufnahmen das Eindringen von Industriearchitektur in den ländlichen Raum des Ruhrtals in den 1920er Jahren, während Joachim Brohm (*1955) die räumliche Komplexität, Offenheit und inhaltliche Dichte der Landschaft entlang der Ruhr der späten 1970er und frühen 1980er Jahre festhält. In August Sanders Landschaftsbildern lassen sich Bezüge zur Malerei finden. Bernd und Hilla Bechers (1931-2007 / 1934-2015) streng komponierte Typologien abs-trahieren Einzelansichten von Industriebauten (wie Fördertürmen), indem sie strukturelle Ähnlichkeiten der Konstruktionsweisen betonen. Die Typologien von Irmel Kamp (*1937) und Arne Schmitt (*1984), die jeweils der Art und Weise folgen, wie die industrielle Nutzung eines einzelnen Materials, nämlich erstens Zink und zweitens Basalt eine Landschaft prägt, scheinen demgegenüber dem Besonderen, dem Detail, dem Unscheinbaren mehr Aufmerksamkeit zuzuwenden. 

In einigen Arbeiten spielen die Künstler*innen auch mit dem der Fotografie eigenen Aspekt des Faktors Zeit und mit den Veränderungen, die Industrie ganz unmittelbar, und die der historische Wandel von Industrielandschaften auch langfristig hinterlässt. So etwa Aglaia Konrad (*1960), die per Film den Blick über lange Zeit auf den Mamorbruch in Carrara hält, oder Jürgen Matschie (*1953), der in einer Serie von acht Bildern eine Straßenkreuzung am Rande einer Braunkohlegrube in Brandenburg beziehungsweise deren Verschwinden dokumentiert. Susanne Kriemann (*1972), die sich seit 2016 in einer Reihe von Arbeiten mit den Folgen des Uranit-Abbaus durch die Wismut AG in Sachsen beschäftigt, hat auf dem ehemaligen Unternehmensgelände in Sachsen Pflanzen gesammelt, in deren Wurzeln sich Schwermetalle und Radioaktivität finden. Mit Farbstoffen, die aus diesen Wurzeln gewonnen wurden, hat sie Heliogravüren (Drucke nach fotografischem Edeldruckverfahren) derselben Pflanzen gefertigt. Ulrich Wüsts (*1949) Serie „Dorf, die Gemeinde Nordwestuckermark“ (2014-2019) macht die Geister einer vergangenen, florierenden industriellen Landwirtschaft sichtbar sowie die Gegenwart der weitestgehend industrialisierten Gemeinde. Dem-gegenüber findet John Kelsey (*1964) eine eigene Form für die Darstellung von Serverparks, die schon durch die Namen, die wir ihnen geben, wie das „Netz“ oder die „Cloud“, Immaterialität und Unsichtbarkeit behaupten. 

Vom Leben in Industrielandschaften – eine fotografische Bestandsaufnahme spricht vom Anthropozän als dem Zeitalter, in dem der Mensch Geologie und Klima aktiv mitbeeinflusst. Allerdings wird – anders als es der abstrahierende Begriff „das Anthropozän“ nahelegt – beispielsweise in Angela Melitopoulos (*1961) und Maurizio Lazzaratos (*1955) Videoinstallation „Life of Particles“ (2013, 82 min.), die vom Umgang mit der Katastrophe in Fukushima in Japan handelt, oder in Armin Linkes (*1966) Film „Alpi“ (2011, 60 min.) – der Mensch, dessen individuelle Handlungsweisen, sein Gestaltungsspielraum und dessen jeweiliger Zusammenhang mit ökonomischen, kulturellen und ideologischen Logiken nicht aus den Augen gelassen. 

Vom Leben in Industrielandschaften ist eine Kooperation mit dem Brandenburgischen Landesmuseum für moderne Kunst. Der zweite Teil des Projekts Vom Leben in Industrielandschaften und ihrem Wandel wird am Leopold-Hoesch-Museum in Düren ab Februar 2021 gezeigt. Die Ausstellung geht den Umbrüchen und Widersprüchen in der Darstellung von Industrielandschaften seit dem Beginn der Industrialisierung nach und wird sowohl historische als auch zeitgenössische Malerei, Fotografie, Installationskunst und Film versammeln. 

Für die Förderung der Ausstellung danken wir der Kunststiftung NRW, dem Museumsverein Düren e.V. und der ANKER Gebr. Schoeller GmbH + Co. KG.


Öffnungszeiten:
Dienstag - Mittwoch: 10:00 - 17:00 Uhr
Donnerstag: 10:00 - 19:00 Uhr
Freitag - Sonntag: 10:00 - 17:00 Uhr
Montag: geschlossen

Weitere Informationen direkt unter: leopoldhoeschmuseum.de

27.10.2019 - 16.02.2020

Vom Leben in Industrielandschaften – Eine fotografische Bestandsaufnahme

Leopold-Hoesch-Museum & Papiermuseum Düren

Hoeschplatz 1
52349 Düren