Wenn die Künstlerin Suchan Kinoshita ihre Ausstellung mit „Architektonischen Psychodramen“ betitelt, liefert sie schon die wichtigsten Stichwörter, die gleichsam den Modus der Rezeption empfehlen. Kinoshita vermeidet Kategorien und Definitionen, sie liebt das Veränderliche und Spekulative. Architektur ist für sie gebauter Raum, Umgebungsraum, der uns beeinflusst, den wir gestalten. An ihr bleiben „Psychodramen“, Erfahrungen, Erinnerungen, Emotionen haften, ohne jedoch zu gerinnen; sie bleiben veränderlich. Bereits in diesem Verständnis von Zeit und Raum, mit den sich darin immer wieder aktualisierenden Subjekt-Objekt-Konstellationen und Bedeutungszusammenhängen, erkennt man Kinoshitas Hintergrund in der Musik und den performativen Künsten. Den einzelnen Elementen in der Ausstellung wird nicht die eine Rolle oder Bedeutung zuteil. Vielmehr geht es um ihr „Objektpotenzial“, wie Eran Schaerf es 2010 im Katalog zu Kinoshitas Ausstellung im Museum Ludwig, Köln bezeichnete. Und so gibt es unzählige Verbindungen zwischen allen versammelten Elementen zu entdecken, die sich an manchen Themen und Ideen bündeln und verdichten, nur um dann gleich wieder in einen anderen Zusammenhang zu springen.

Orientierung und Halt verspricht dabei zunächst die „räumliche Zeichnung“ der Künstlerin, die sie aus Metallstreben größtenteils vor Ort zusammengeschweißt hat. Den Ausstellungsraum hat sie sichtbar als Volumen, nicht als Addition von Wand- und Bodenflächen wahrgenommen, wenn sie die Decke in ihre Konstruktion miteinbezieht, sie an einer Stelle stützt und an anderer Stelle ein Element von ihr abhängt. Die Streben einzelner Metallbauteile laufen ins Leere, reichen nicht bis an die Wand, vervollständigen nicht die begonnene Form. Somit entweicht selbst die metallene Struktur einer fixen Zuschreibung, erlaubt aber viele Assoziationen, die von einem Arkadengang mit Schaufenstern bis zu domestischem Mobiliar wie Bett oder Kleiderschrank reichen.  

Behaust wird diese Architektur von allerlei Charakteren. Darunter unmittelbar identifizierbar ist wohl der Künstler und Musiker David Bowie (1947-2016), der als Posterdruck mit einer bettähnlichen Architektur verschlungen ist. Das Poster zeigt ihn als Ziggy Stardust bei einem Auftritt in Tokio 1973, gekleidet in ein Gewand des japanischen Designers Kansai Yamamoto (1944-2020). Ein Poster wie dieses hing lange Jahre in Kinoshitas Jugendzimmer über ihrem Bett. Weit mehr als an anderen Stellen in der Ausstellung ist hier ein direkter Bezug zur Künstlerin erkennbar: Suchan Kinoshita ist als Tochter einer deutschen Mutter und eines japanischen Vaters in Tokio geboren, wo sie die ersten 19 Jahre ihres Lebens verbrachte.  

Erinnerungen und Erfahrungen beider kultureller Welten und ihrer Schnittstellen bilden sich ihrer Praxis immer wieder ab. Dabei schreibt Kinoshita der Architektur (im weitesten Sinne) eine besondere Bedeutung zu, wenn es um das Erinnern geht. Diese verleiht den Erinnerungen, Gedanken und Gefühlen einen Raum, eine Materialität und Orientierung. Erinnerungen werden durch sie realer, und gleichzeitig werden Räume und Architekturen mit komplexeren und individuellen Bedeutungen aufgeladen: architektonische Psychodramen eben. Aber auch hier gilt das Prinzip der Veränderlichkeit: Keine Erinnerung bleibt jemals gleich. Sie ist nie reine Nachahmung, sondern schafft immer auch etwas Neues. In diesem Sinne lässt sich auch die Integration der zehn Edelstahlkugeln als „The missing ten“ verstehen, die zu Otto Pienes Installation „Silberne Frequenz“ (1972/2014) an der Fassade des LWL-Museums für Kunst und Kultur gehören, dort jedoch bei der Anbringung an den Neubau 2014 dem von nun an integrierten Logo des Landschaftsverbands weichen mussten.

Neben diesen Künstlerpersönlichkeiten, die Kinoshita als Protagonisten in ihren architektonischen Psychodramen auftreten lässt, finden sich aber noch weitere Charaktere, die zusätzliche Fäden spinnen zwischen den Themenfeldern Architektur, Körper, Erinnerung und Identität. Mit Yamamoto und Bowie sind Kleidung, Mode und ihre Bedeutungsmacht bereits Bestandteile der Ausstellung. Kinoshita ergänzt dies durch ihre „Lumpen“-Kollektion, die im Schaufenster als Mode zum Verkauf angeboten wird, die sie aber auch in verschiedenen Werken in der Ausstellung weiterverarbeitet hat. „Lumpen“, d.h. handlich zerschnittene Altkleider, kann man in belgischen Baumärkten säckeweise als Baustoff, Putzutensil o.ä. kaufen. Kinoshita näht diese wieder zusammen, taucht sie in Zement oder Lehm, bemalt sie mit ihrem ursprünglichen Druck und lässt sie flächig trocknen bzw. versteinern. In die verkäuflichen „Lumpen-Saris“, die man in der ebenfalls von der Künstlerin gebauten Umkleidekabine anprobieren kann, hat sie Etiketten ihres multidisziplinären Labels „Allerleirauh“ eingenäht. „Allerleirauh“ ist ein Märchen der Gebrüder Grimm und bezeichnet zugleich dessen Hauptprotagonistin. Diese Prinzessin trägt einen Mantel aus „Allerleirauh“, d.h. aus verschiedensten gegerbten aber noch nicht verarbeiteten Tierfellen („Rauchwaren“ oder „Rauwaren“).  

Seit etwa zwei Jahren beschäftigt sich Suchan Kinoshita, die u.a. Neue Musik in Köln bei Mauricio Kagel studiert hat, wieder vermehrt mit Musik, wobei ihr Fokus aktuell auf „Popsongs“ liegt, wie sie selbst sagt. Diese von ihr selbst getexteten, komponierten und produzierten Songs sind alternierend und mit Unterbrechungen auch in der Ausstellung zu hören und tragen somit ebenfalls zu einer sich ständig verändernden Raumwahrnehmung bei. Auch in Momenten der Stille sind die Songs anwesend: acht Mobiltelefone (als Abspielgeräte) und acht Bluetooth-Lautsprecher bewohnen die metallene Architektur und geben den Songs eine physische Präsenz.  

Die Relevanz von Sprache, der spielerische Umgang mit ihr, Mehrdeutigkeiten und Humor – das alles findet sich in den Popsongs wieder, aber auch in der Installation im Kabinett, wo Besucher:innen selbst eine Schallplatte abspielen können, auf der Kinoshita die Texte aus ihrer Publikation „Da Capo“ eingesprochen hat. „Da Capo“ bezieht sich auf Kinoshitas Arbeit The difference is this: You go in or you stay out, You stay in or you go out: This is the difference, eine ortsspezifische Installation, die sie 1998 für die Kunstmesse Art Basel entwickelte. Rund um das Projekt ergaben sich komplexe Fragen zur Realisierung, zu einer Rekonstruktion Jahre später, zu räumlichen Gegebenheiten und Einschränkungen, zu den allgemeinen Mechanismen von Ein- und Ausschluss im kommerziellen Kunstsystem: Also auch hier begegnen wir einem architektonischen Psychodrama. Kinoshita hat dies künstlerisch verarbeitet in annähernd lyrischen Texten, die in ihrem Fluss, ihrer Dichte und ihrer spärlichen Interpunktion durchaus an Gertrude Stein erinnern, die Kinoshita als wichtigen Einfluss nennt.  

Wie die Songs nehmen auch die „Da Capo“-Texte eine materielle Form an im Raum: sie sind manifest als Schallplatte, an der sich zugleich das Verstreichen von Zeit ablesen lässt.  

Suchan Kinoshitas Texte werden begleitet von Geräuschen, die sie mithilfe von Vogellockpfeifen produziert hat. Diese mit einer unglaublichen Kreativität erfundenen und in aufwendiger Handarbeit hergestellten Instrumente zeigt die Künstlerin in einer Art Voliere und folgt auch damit dem Prinzip, akustischen Bestandteilen der Ausstellung gleichsam eine physische Präsenz zuzugestehen. Auch diese Objekte sind Architekturen im Sinne Kinoshitas, bilden sie doch eine Behausung für Töne. Und hiermit lässt sich der Bogen zurückschlagen zur nie endenden Veränderlichkeit: Wenn Kinoshita die Vogellockpfeifen benutzt, ist dies keine Nachahmung von Vogelstimmen. Es ist vielmehr das Schaffen von etwas Neuem. So wie es sich mit jeder Erinnerung, mit jedem Objekt, jedem Wort verhält. 


Suchan Kinoshita (*1960 in Tokio, lebt und arbeitet in Brüssel und Münster) lehrt seit 2006 als Professorin für Malerei an der Kunstakademie Münster und war 2007 an den Skulptur Projekten beteiligt.

Begleitend zur Ausstellung wird eine Schallplatte mit Kinoshitas Musikstücken erscheinen. Exklusiv für die Mitglieder des Kunstvereins wird sie zudem eine Jahresgabe produzieren.