Der Bestand mittelalterlicher Gemälde und Skulpturen im Germanischen Nationalmuseum zählt international zu den bedeutendsten seiner Art. Ausgewählte Highlights dieser hochkarätigen und weltweit einzigartigen Sammlung sind ab Donnerstag, 7. April 2022 im Rahmen einer Sonderausstellung zu sehen. Die Kunstwerke zeugen zum einen von den bahnbrechenden Neuerungen, die sich im 15. Jahrhundert in der Kunst vollzogen. Zum anderen ermöglichen sie einen ersten Einblick – eine Preview – in das neue Konzept der Dauerausstellung zu mittelalterlicher Kunst, deren Räume derzeit wegen Sanierung geschlossen sind und 2024 wieder öffnen.

Das Spätmittelalter ist für mich wie die Gegenwart eine faszinierende Zeit großer Verunsicherungen, Horizonterweiterungen und Veränderungen. Deshalb ist diese Epoche heute so modern und erhellend für uns,“ betont Generaldirektor Prof. Dr. Daniel Hess.

Die kostbare Silberbüste des Heiligen Zeno bildet den Auftakt der Sonderausstellung. Erstmals seit rund 70 Jahren ist sie wieder in Nürnberg zu sehen, das Meisterwerk spätmittelalterlicher Goldschmiedekunst befand sich bislang als Dauerleihgabe im Bayerischen Nationalmuseum in München. Die Büste steht exemplarisch für den Reliquienkult und die Heiligenverehrung des 15. Jahrhunderts und ist zugleich ein herausragendes Beispiel für die damals übliche künstlerische Zusammenarbeit: Gefertigt wurde sie von einem Goldschmied nach der Vorlage eines Holzbildhauers. 

Gesamtkunstwerk Flügelretabel
Auch der nebenstehende Flügelaltar aus Sachsen von 1519 ist ein Gemeinschaftsprodukt. An Korpus, Bildtafeln, Skulpturen und Verzierungen arbeiteten unterschiedlichste Gewerke wie Tafelmaler und Bildschnitzer, Schreiner, Schlosser, Vergolder und Fassmaler zusammen. Die raumgreifenden Retabel wurden im Laufe der Zeit häufig zerlegt, Skulpturen einzeln in Szene gesetzt und Tafelbilder dekorativ an Wände gehängt. In Museen nimmt man sie deshalb selten als zusammengehörend war. Ein Video zeigt das Öffnen und Schließen eines Flügelalters, das sogenannte Wandeln, und verdeutlicht damit dessen Funktion im Kirchenraum – und macht nebenbei die Sinnhaftigkeit beidseitig bemalter Tafeln offensichtlich.

Auch die „Tegernseer Kreuzigung“ war früher Teil eines Retabels. Allein ihre Größe von knapp zwei Metern Höhe und 2,70 Meter in der Breite beeindruckt, und das entspricht nur etwa ¼ der ursprünglichen Ausmaße. Die Monumentalität des gesamten Retabels lässt staunen. Zum Hinsehen verleiten auch die Motive. Der figurenreiche Kalvarienberg erzählt auf innovative Weise vom Alltag im Mittelalter: Unten links im Bild sitzt ein Plünderer, der offenbar einem der Delinquenten einen Stiefel gestohlen hat, den er sich – den Schuhlöffel im Mund haltend – jetzt selbst anzieht. 

Zeittypisch ist die drastische Darstellung von Brutalität, die an den tiefrot eingefärbten Blutströmen sichtbar wird. Wie gehen wir heute mit Darstellungen solch expliziter Gewalt um? Wie reagierten Betrachtende damals? Naturnähe entstand außerdem mittels durchdachter Licht- und Schattenkompositionen, auf die Imitation von Materialien wie Brokatstoff wurde große Sorgfalt verwendet. Der eindringliche Realismus findet sich auch in den Farbfassungen von Skulpturen, wie eine Grablegung Christi von 1490 bezeugt.

Serienfertigung und Export
Viele Kunstwerke entstanden im Mittelalter für Kirchen und waren fester Bestandteil der christlichen Liturgie. Die große Nachfrage vermochten nur gut organisierte Werkstätten zu bewältigen. Werkstattleiter verfügten über zahlreiche Mitarbeiter, Subunternehmen halfen, Großaufträge zeitnah und vollständig auszuführen. Wichtig war eine gewisse Wiedererkennbarkeit, ein identitätsstiftender Stil, der eine Werkstatt auszeichnete, wie beispielsweise die markant schmalen Gesichtszüge der Figuren aus der Riemenschneider-Werkstatt.

Erstmals bestand im 15. Jahrhundert die Möglichkeit, Kunstwerke zeitnah und verhältnismäßig unkompliziert in größerer Stückzahl herzustellen – die Serienfertigung begann. Die Technik des Buchdrucks und der Druckgraphik  entwickelte sich rasant weiter, exemplarisch ist eine zweibändige Bibel des bedeutenden deutschen Buchdruckers Anton Koberger ausgestellt. Daneben sind Glasgemälde aus einer Werkstattkooperative in Straßburg, einem Zusammenschluss von fünf Glasmalereibetrieben, zu sehen. Mitarbeiter reisten mit Musterstücken durch Europa, um neue Kunden zu akquirieren. Schon damals setzten Künstler auf Netzwerkbildung, Arbeitsteilung und moderne Vertriebsmethoden. „Stroßburg finster“ waren europaweit begehrt. 

Mitleid und Verehrung
Das bunte Glas tauchte die Kircheninnenräume in ein transzendentes, luzides Licht, um die Sinne der Menschen anzusprechen. Emotional zu berühren vermochten auch die bisweilen drastischen Darstellungen auf den Tafelbildern. Die Gläubigen sollten mitfühlen und mitleiden, die Verehrung von Heiligen mittels Reliquien erlebte ihren Höhepunkt.

Eine besondere Rolle unter den Heiligen kommt Maria als Muttergottes zu. Nach kirchlicher Lehre ist sie der einzige Mensch, der mit Leib und Seele in den Himmel aufgenommen wurde. Eine mehr als zwei Meter hohe Figurengruppe der Marienkrönung beeindruckt am Ende des Rundgangs. Monumental sind Gottvater, der seine Mutter krönende Christus und die ehrfürchtig kniende Maria dargestellt. Sie bildeten ursprünglich das Zentrum eines Retabels, das Hans von Judenburg für die Stadtpfarrkirche in Bozen schuf. Entstanden um 1420, ist es zugleich das älteste Exponat der Ausstellung.

Medienstationen
Neben den rund 25 Kunstwerken führen Medienstationen tiefer ins Thema ein. In kurzen Interviews erläutern Experten einzelne Aspekte der Ausstellung, Videos informieren über Restaurierungsmaßnahmen, lenken den Blick auf Details oder zeigen Objekte aus anderen Museen mit Verbindung zu den Nürnberger Werken. Eine Feedback-Station fragt nach Meinung und Interessen der Besuchenden. Die Interims-Ausstellung dient als Preview, zugleich als Experimentierfeld für die angedachte Neupräsentation mittelalterlicher Kunst in der Dauerausstellung. 


Öffnungszeiten:
Dienstag: 10:00 - 18:00 Uhr
Mittwoch: 10:00 - 20:30 Uhr
Donnerstag - Sonntag: 10:00 - 18:00 Uhr
Montag: geschlossen

Weitere Informationen direkt unter: gnm.de