Die Geburt der Grafiksammlung des Kunstmuseums Stuttgart im Nationalsozialismus

Die Ausstellung »Grafik für die Diktatur« thematisiert die Geburtsstunde der Grafiksammlung des Kunstmuseums Stuttgart im »Dritten Reich«. Zum ersten Mal wird dieses bisher weitgehend nicht erzählte Kapitel Stuttgarter Kunstgeschichte umfassend untersucht und vorgestellt. Die Geschichte dieser Sammlung illustriert besonders anschaulich die Verdrängung, die in westdeutschen Museen nach 1945 einsetzte und erst heute langsam überwunden wird.

Seit 2014 wird am Kunstmuseum Stuttgart Provenienzforschung betrieben. Was zunächst als systematische Untersuchung der Erwerbungen der Städtischen Galerie im Nationalsozialismus mit dem Ziel begonnen hatte, eine Klärung über NS-verfolgungsbedingt entzogenes Kulturgut im Kunstmuseum Stuttgart herbeizuführen, mündete in einer umfassenden kritischen Studie zur Geschichte der Institution. Aus diesen Forschungen von Kai Artinger, Provenienzforscher am Kunstmuseum Stuttgart seit 2017, resultierte die von ihm kuratierte Ausstellung »Das Kunstmuseum Stuttgart im Nationalsozialismus. Der Traum vom Museum ›schwäbischer‹ Kunst« (2020). Zusammen mit dem gleichnamigen Buch fand sie überregionale Beachtung und Anerkennung. Die umfassenden Untersuchungen zur Museums-, Sammlungs- und Herkunftsgeschichte wurden anschließend fortgesetzt mit der Erforschung der Erwerbungen für die Grafiksammlung der Städtischen Galerie Stuttgart im »Dritten Reich«.

Die Ergebnisse der rund vier Jahre langen Recherchearbeit, die nun in der Ausstellung und einer begleitenden Publikation präsentiert werden, bestätigen die Erkenntnisse aus dem vorangegangenen Projekt, dass Stuttgarts Nationalsozialisten nicht nur von einem Museum »schwäbischer« Kunst träumten und dieses auch planten, sondern dass auf sie auch die Gründung einer umfangreichen Grafiksammlung zurückgeht. Viel deutlicher noch als bei der Entstehung der Gemäldesammlung lässt sich an der Grafiksammlung erkennen, in welchem Ausmaß sich das städtische Kultur- und Kunstreferat Stuttgarts bei seinen Erwerbungen von einem völkischen, nationalistischen und rassistischen Weltbild leiten ließ. Es war die Geburtsstunde einer völkischen Sammlung, die zum einen den Ansprüchen an die Kunst im »Dritten Reich« genügen und zum anderen der Propaganda dienen sollte. 

Doch so wenig widerspruchsfrei der Nationalsozialismus war, so wenig widerspruchsfrei war die Sammlungspolitik. Es gibt eine ganze Reihe ungewöhnlicher, nur schwer zu erklärender Ankäufe, die in diese Zeit fallen – sie stammen etwa von Künstler:innen, die von den Nationalsozialisten verfolgt wurden.

Anhand von über 160 Grafiken sowie Fotografien, Büchern und Dokumenten veranschaulicht die Ausstellung die nationalsozialistische Kunstpolitik in Stuttgart, die letztlich zur Entstehung der Grafiksammlung der Städtischen Galerie geführt hat. Sie bringt Sammlungsbereiche ans Licht, die seit 1945 verdrängt und vergessen wurden, darunter etwa den Bestand von Kriegsbildern, dessen Herkunft bis vor kurzem noch völlig im Dunkeln lag.

Die Ausstellung geht der einstigen Bedeutung der Werke von Kriegsmalern und »Künstlern im grauen Feldrock« – allesamt Männer – für die Grafiksammlung der Stadt Stuttgart nach und zeigt, wie das Museum für den Krieg instrumentalisiert und zu einem Teil des totalitären Systems wurde. Überdies werden Künstler:innen in den Blick genommen, die Mitglied der NSDAP waren und vom Faschismus profitierten, darunter auch solche, die in der Nachkriegszeit ihre Kollaboration mit dem Regime verschwiegen, beschönigten oder sogar eine »Widerstandsvita« erfanden. Exemplarisch vorgestellt werden die Biografien von Fritz Faiss, Heinrich Kübler, Peter Jakob Schober und Olga Waldschmidt.

Einen Schwerpunkt der Ausstellung bilden die sogenannten »Heimat-Bilder«, in denen die Idee von Heimat als Bedingung für den Erhalt von Volk und Nation Niederschlag fand. Diese Blut-und-Boden-Ideologie, auf der die Heimat- und völkische Bewegung gründet, war maßgeblich als Sammlungskriterium während der NS-Zeit. Die erworbenen Bilder stellen eine Welt dar, die dem Großstadtleben konträr gegenübersteht; sie beschwören eine ländliche, kleinstädtische Idylle herauf und zeigen Orte und Landschaften, die der nationalsozialistischen Grundanschauung zufolge besonders gut dafür geeignet seien, die »Heimatliebe« der Bevölkerung und damit die Liebe zum Vaterland zu befördern.

Ein Kapitel der Ausstellung widmet sich dem Holzschnitt als ein politisches Bildmedium. Ihm kam im Nationalsozialismus eine herausgehobene Bedeutung zu, galt er doch als Synonym für »deutsche« Grafik schlechthin. An die lange Tradition des Holzschnitts seit Albrecht Altdorfer und Albrecht Dürer knüpften etwa Künstler wie Hektor Kirsch und Georg Sluyterman von Langeweyde an.

Die Ausstellung beleuchtet in einem weiteren Kapitel die besonderen Bildmotive der Frau und der Bauern, die in der Propaganda im »Dritten Reich« strategisch eingesetzt wurden. Der NS-Staat erhob die Sorge um die Familie zur Doktrin und reduzierte das Dasein der Frau allein auf die Erfüllung der Mutterrolle: Die dargestellten Frauen erscheinen als bloße Repräsentantinnen ihres ›Standes‹, als Mütter sind sie reine Funktionsträgerinnen. In den Bauernbildern fand die von den Nationalsozialisten verfolgte Vision von Deutschland als einem »Bauernreich« ihren Ausdruck. Sie zeigen eine intakte ländliche Idylle, in der der Bauernstand und dessen Lebensverhältnisse idealisiert wird – und spiegelten damit lediglich eine Scheinrealität wider. Denn das faschistische Deutschland war längst ein technologisch hochgerüsteter, moderner Industriestaat. In der Ausstellung werden darüber hinaus Künstlerinnen vorgestellt, die oftmals gegenüber ihren männlichen Kollegen benachteiligt waren. Ihre Werke erscheinen auf den ersten Blick unpolitisch, doch bei näherer Betrachtung lassen sich auch hier Bezugspunkte zur nationalsozialistischen Weltsicht und zum NS-Regime feststellen.

Das Kunstmuseum Stuttgart leistet mit diesem Ausstellungsprojekt zudem einmal mehr einen weiteren wichtigen Beitrag zur Restitution von im »Dritten Reich« entzogenen Kunstwerken. In diesem Fall sind es Grafiken von Carlos Grethe, die im Besitz des Stuttgarter Kaufmanns und Kunstsammlers Max Rosenfeld (1867–1943) waren und NS-verfolgungsbedingt in die Sammlung des Kunstmuseums gelangten. Der in der Ausstellung vorgestellte Fall veranschaulicht die Komplexität solcher Provenienzen und die Schwierigkeit, heute, nach bald acht Jahrzehnten, die Biografie eines Opfers und seiner Sammlung zu rekonstruieren. Das Kunstmuseum Stuttgart und die Stadt Stuttgart haben entschieden, das umfangreiche Konvolut an Grafiken und Zeichnungen von Carlos Grethe sowie ein Porträt Max Rosenfelds von Bernhard Pankok an die US-amerikanischen Nachfahren und Erben im Februar 2025 zurückzugeben.

Für Max Rosenfeld und seine Familie werden am 30. Oktober 2024 jeweils ein Stolperstein in Stuttgart verlegt. Der eine Stein wird auf dem Gehweg vor Max Rosenfelds ehemaliger Villa im Herdweg 63 eingelassen, wo heute das ZDFLandesstudio Baden-Württemberg seinen Sitz hat. Das ZDF stellt vor Ort außerdem zwei Gedenktafeln auf. In der Gustav-Siegle-Straße 3 wird ein Stolperstein in Gedenken an Max Rosenfelds Sohn Paul Georg und dessen Familie verlegt.