Die Mittelalterabteilung der Liebieghaus Skulpturensammlung ist ab sofort um eine außergewöhnliche Figur reicher. Die Ernst von Siemens Kunststiftung konnte die Kleinplastik einer Stillenden Muttergottes (Maria Lactans) für das Frankfurter Museum erwerben. Wie bei dem im vergangenen Herbst vorgestellten Christuskind handelt es sich um ein Werk des Ulmer Bildschnitzers Michel Erhart. Das ausgesprochen hochkarätige Stück aus der Zeit um 1490/95 bedeutet einen Sammlungszuwachs von allergrößter kunsthistorischer Relevanz, denn Ulmer Kleinskulptur ist selten. Noch seltener jedoch sind Kleinplastiken Michel Erharts. Die anmutige Mariengruppe gehört sicherlich zu den schönsten und qualitätvollsten Arbeiten dieses Künstlers – selbst wenn sie ihre Polychromie und damit viel ihrer ursprünglichen Intention und Wirkung eingebüßt hat. Besonders ist auch das Thema der stillenden Muttergottes, ein Sujet, das in der deutschen Bildhauerkunst im 15. Jahrhundert kaum dargestellt wird. In der Mittelaltersammlung des Liebieghauses war diese als Sinnbild wahrer Mutterschaft zu verstehende Darstellung bislang nur in Gestalt einer kleinen französischen Elfenbeinfigur aus der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts vertreten. Bei der in Holz geschnitzten Skulptur der Maria Lactans von Michel Erhart handelt es sich um eine der einfühlsamsten und anrührendsten Versionen des Motivs.

Die Marienfigur war in der Forschung bislang weitgehend unbekannt. Zunächst galt sie als Arbeit Tilman Riemenschneiders, eine Einschätzung, die jedoch von der Riemenschneiderforschung nicht geteilt wurde. Als Werk Erharts wurde sie zu dieser Zeit nicht wahrgenommen, da die Erforschung des Ulmer Bildhauers und seines Œuvres noch am Anfang stand. Technologische Untersuchungen konnten nun allerdings zeigen, dass das Stück in der gleichen Werkbank bearbeitet wurde wie die um 1490/95 entstandene Büste der heiligen Barbara (Liebieghaus Skulpturensammlung).

„Dass wir erneut ein Werk Michel Erharts vorstellen, ist Zufall, aber ein ungemein glücklicher! Denn mit diesem Stück erfährt unsere qualitätvolle Sammlung Ulmer Skulpturen der Spätgotik eine weitere herausragende und seltene Ergänzung“, freut sich Dr. Stefan Roller, Sammlungsleiter für das Mittelalter in der Liebieghaus Skulpturensammlung. „Mit dieser wunderbaren Marienfigur kann das Liebieghaus dank der großzügigen Zuwendung der Ernst von Siemens Kunststiftung seine Position in der ersten Reihe internationaler Skulpturensammlungen betonen. In keinem anderen Museum weltweit kann die lange Jahre vollkommen unterschätzte kunsthistorische Qualität und Bedeutung der kleinformatigen Skulptur Ulms in diesem Umfang und auf diesem hohen Niveau nachvollzogen werden“, so Liebieghaus Direktor Dr. Philipp Demandt.

„Die Ernst von Siemens Kunststiftung ist glücklich, erneut einen so herausragenden Ankauf für das Liebieghaus ermöglicht zu haben. Mit seiner ikonografischen und künstlerischen Besonderheit ergänzt dieses außerordentliche Figürchen den mittelalterlichen Bestand des Hauses auf das Allerbeste“, meint Dr. Martin Hoernes, Generalsekretär der Ernst von Siemens Kunststiftung.

Das kleine Format, die hohe künstlerische Qualität und der intime Bildgegenstand mit seiner überaus stimmungsvollen Erfassung der Mutter-Kind-Beziehung weisen die Skulptur als ein Objekt der privaten Andacht aus. Ursprünglich dürfte sie Teil eines kleinen Altars gewesen sein, wie die nur grob ausgearbeitete und partiell ausgehöhlte Rückseite vermuten lässt.

Der in Ulm zwischen 1469 und 1522 aktive Bildhauer und Bildschnitzer Michel Erhart zählt zu den populärsten Vertretern der deutschen Spätgotik. Seine Bekanntheit beruht nicht nur auf der hohen künstlerischen Qualität seiner Arbeiten, sie resultiert auch aus der erstaunlich umfangreich erhaltenen Produktion seiner Werkstatt und der Popularität einiger seiner Werke, etwa der Büsten der Propheten und Sibyllen am Chorgestühl des Ulmer Münsters (1469–74) oder seiner Bildwerke im Hochaltar der Benediktinerklosterkirche in Blaubeuren (1493/94). Selten aber ist Erhart mit der Herstellung von kleinformatiger Skulptur in Verbindung zu bringen. Mit der neuerworbenen Maria Lactans vermehrt das Liebieghaus daher nicht nur seine bereits erstklassigen Bestände Ulmer Kleinskulptur der Spätgotik um ein entscheidendes Werk. Das Museum etabliert sich außerdem als eine der qualitätvollsten Sammlungen süddeutscher und schwäbischer Skulptur, insbesondere aus der Werkstatt Michel Erharts, die seit vielen Jahren im Fokus seiner kunsthistorischen und technologischen Forschungen steht.

Das Liebieghaus, zentral am Museumsufer in Frankfurt am Main gelegen, zählt mit über 3.000 Werken auf rund 1.600 Quadratmetern Ausstellungsfläche zu den international wichtigsten Skulpturenmuseen. Die Sammlung vereinigt herausragende Skulpturen vom alten Ägypten bis zum Klassizismus: Mit Werken der ägyptischen, griechischen und römischen Antike, des Mittelalters und der Renaissance, des Manierismus, des Barock und Rokoko, des Klassizismus sowie Ostasiens bietet sie in ihrer Vielfalt einen fundierten Überblick über 5.000 Jahre Geschichte der Bildhauerei. Zu den zahlreichen Meisterwerken der Sammlung zählen unter anderem die marmorne Athena-Skulptur (ca. 450 v. Chr.) nach dem Vorbild von Myron, die Sandsteinfigur Muttergottes (um 1520) von Tilman Riemenschneider und der von Andrea della Robbia um 1500 geschaffene Terrakottaaltar. In den vergangenen Jahren zog das Liebieghaus mit umfangreichen Ausstellungs- und Forschungsprojekten wie „Bunte Götter. Die Farbigkeit antiker Skulptur“ (2008/2009), „Jean-Antoine Houdon: Die sinnliche Skulptur“ (2009/2010) oder „Niclaus Gerhaert. Der Bildhauer des Mittelalters“ (2012) großes Publikumsinteresse auf sich und überzeugte die Fachwelt mit seinen Publikationen und wissenschaftlichen Vorhaben.