Der Kasseler Kunstverein freut sich, mit DON’T LOOK INTO MY EYES die erste umfassende Einzelausstellung von Selma Selman in Deutschland präsentieren zu können, die von Boshko Boskovic und Olga Holzschuh kuratiert wird. Die bosnisch-herzegowinische Künstlerin und Aktivistin Selma Selman (*1991) integriert in ihre künstlerische Praxis Narrative der Roma-Community, einschließlich die ihrer eigenen Familie. Ihre Arbeiten wechseln zwischen sensiblen, harschen und ironischen Gesten, die dabei diskriminierende Identitätszuschreibungen, Rollenerwartungen und Stereotypen enthüllen. Dadurch wird Selmans Körper und Identität zu einem Medium, welches universelle und persönliche Themen einfängt, die wiederum politischen Widerstand und feministisches Empowerment artikulieren. Ihre Arbeit engagiert sich sozial, indem sie den Wert der traditionell von Roma verrichteten Arbeit in den Vordergrund stellt, diese Geschichten sichtbar macht und so die üblichen Narrative neu ausrichtet und gesellschaftlich akzeptabler macht.

Der Ausstellungstitel DON`T LOOK INTO MY EYES verweist auf eine frühe Videoarbeit, Don’t Look into Gypsy Eyes, die neben anderen Videoarbeiten in der Ausstellung zu sehen ist. Selman spricht in ihrer Muttersprache (Bosnisch) in die Kamera und droht den Betrachtenden, dass ihnen – wenn sie ihr in die Augen schauen – Dinge widerfahren können, die Verführung, Zaubersprüche oder Gefahr mit einschließen.
Das Kommentieren der Angst, die Faszination für das Andere sowie das Überschreiten von Grenzen sind ein immer wiederkehrendes Thema in Selmans künstlerischer Praxis. Die Videoarbeit You Have No Idea (Election Day) ist eine Version von Selmans bekanntestem Performance-Stück, in der sie das Publikum konfrontiert, indem sie ständig die Worte „You Have No Idea!“ wiederholt. Sie hat dieses Werk unter anderem in New York City, Syracuse, New York und Maribor, Slowenien aufgeführt. Dieses Video wurde am Wahltag 2020 in Washington, DC aufgenommen. Die Künstlerin läuft über den Black Lives Matter Boulevard und ruft dieselben Worte – wird dabei von einem Schwarm Fotoreporter:innen aus der ganzen Welt verfolgt. Zugleich wird sie von einer Menschenmenge mit ihren Smartphones gefilmt, die ihre Wut oder Faszination gegenüber Selmans Körper Ausdruck verleihen.

In ihren künstlerischen Performances versucht Selman beständig, sich Raum für ihren eigenen Ausdruck und ihr Sein zu verschaffen In der Videoarbeit No Space, die eigens für das Smartphone produziert wurde, sitzt Selman auf einer virtuellen Erdkugel und erklärt ausdrücklich, wie sie um ihren eigenen Raum kämpft und dass dort niemand willkommen ist. Indem diese Arbeit sich zur persönlichen Sicherheit, persönlichen Freiheit und vielleicht auch zum Privateigentum äußert, kann sie als ein Kommentar zum eigenen Kampf um einen Platz in dieser Welt gesehen werden.
Wut, Macht und Verletzlichkeit sind in Selma Selmans künstlerischer Praxis oft miteinander verwoben. Das Thema Zerstörung wird in ihren Performances oft aufgegriffen – mit Alltags- oder Haushaltsgeräten, wie z.B. Waschmaschinen oder Staubsaugern.

Mercedes Matrix, erstmals im KKV ausgestellt, ist die Videodokumentation einer Performance, bei der Selman und ihre Familie auf dem Kampnagel-Platz in Hamburg einen Mercedes Benz zerstören. Durch die Zerstörung des wertvollen Fahrzeugs greift Selman die händische Arbeit ihrer Familie auf und verwandelt diese in Performance-Kunst. Ihr Vater war jahrzehntelang darauf angewiesen, Metallabfälle zu Geld zu machen, um das Wohlergehen seiner Familie zu garantieren, während Selman heute dieselbe Arbeit einsetzt, um ihr eigenes Überleben als Künstlerin zu sichern. Indem sie das Motiv des Sammelns und Recycelns von Altmetall wiederholt, lädt Selman uns ein, die Art und Weise zu hinterfragen, wie wir materiellen Objekten und körperlicher Arbeit Wert zumessen und wie unsere Beziehung dazu ist.

In ihrer neuen mehrteiligen Installation schnitzt die Künstlerin einzelne Stücke aus einem Fahrzeug heraus und schafft damit Werke, die zwischen dem Malerischen und dem Skulpturalen angesiedelt sind. Da sie seit ihrer Kindheit sehr persönlich mit Metall verbunden ist, verschmelzen bei Selmans Altmetallbildern Eindrücke des Alltags, der Kunstgeschichte, der Umgangssprache und ihrer ganz persönlichen Erfahrung miteinander. Humor, Wortspiele und ihre dynamischen Handbewegungen mit Acryl und Pinsel ergeben kleine intime Objekte auf Metall. Die im Ausstellungsraum verteilten Gemälde, die Fragmenten eines Körpers nicht unähnlich sind, könnten aber auch Parasiten darstellen, die in den sauberen „White Cube“ eindringen.

Selmans Serie von Zeichnungen mit Farbstift auf Papier zeigt eine weibliche Figur, die sich von einer Entität in eine andere verwandelt und Begriffe wie Geschlechtsausdruck und interne persönliche Identität in Frage stellt. Die Protagonistinnen der Künstlerin entziehen sich festen Definitionen und präsentieren sich mit verzerrten Gesichtern, unvorstellbaren Körpern und tierähnlichen Zügen.
Während des letzten Jahrzehnts war Selmas Familie Inspiration, wirkte aber auch als Zubringerin ihrer Arbeit, die sich in den Werken Salt Water und Don’t Be Like Me sehr deutlich manifestiert.
 
Das Video Salt Water bringt einen überraschenden Moment hervor, in dem Selman ihre Mutter zum ersten Mal ans Meer begleitet. Auf den ersten Blick eine humorvolle Arbeit, hat dieses Werk tiefere Bedeutungsebenen, die sich mit persönlicher Freiheit, Migration und Menschenrechten befassen, da Selmans Mutter aufgrund der ethnischen und politischen Politik im ehemaligen Jugoslawien den größten Teil ihres Lebens ohne Papiere gelebt hat, was es schwierig machte, einen Reisepass zu erhalten. Das Fotografie-Diptychon Don't Be Like Me zeigt Selman als erwachsene Tochter, die auf dem Schoß ihrer Mutter sitzt. Beide blicken direkt in die Kamera vor einer von Palmen inspirierten Tapete, die an das Paradies erinnert. Dieses Porträt in weißen Hemden in einer häuslichen Umgebung bezieht sich auf Darstellungen von Müttern und Kindern in religiösen Gemälden der Renaissance.
 
Selman teilt auch ihre intimsten Momente mit uns, enthüllt ihre Verwundbarkeiten und zeigt uns, wie sie zu Empowerment-Tools werden können. In ihrer Performance und Klanginstallation Letters to Omer im Kasseler Kunstverein schreibt sie einen Brief an Omer, ein fiktives Wesen, das die ganze Welt repräsentiert und an das sich Selman wendet. Dieses Wesen verkörpert alles, was in unserer Gesellschaft das Beste und das Schlechteste darstellt. Sie erzählt ihm ihre Geheimnisse und ihre Wünsche, während sie sich vorstellt, wie das Leben in einer utopischen Welt aussehen könnte. Ausgehend von der von Selman verfassten Poesie, definiert diese Arbeit Gespräche über zeitgenössische Performance sowie Weiblichkeit, Erotik und Patriarchat neu.

Die Ausstellung erkundet mehrere Konzepte, die im Werk durch die Medien Performance, Zeichnung, Malerei, Video und Fotografie von Selma Selman koexistieren, einschließlich Alchemie, Neuinterpretation von Identitäten, Unterdrückung, Intimität und Begierde. In ihrem Werk wandelt Selman einige der negativen Erfahrungen ihres Lebens in positive um: die Familiendynamik des Überlebens wird in Kunst kanalisiert, unerwünschtes Metall löst sich in Gemälden und Skulpturen auf; Träume, Visionen und seltsame Gefühle werden in Performances sublimiert. Die Ausstellung DON`T LOOK INTO MY EYES lädt die Besucher:innen ein, zu sehen, zu hören und zu fühlen, was Selma Selman uns zu sagen hat. Es liegt am Publikum selbst es sich zuzutrauen die Themen, die Selman anspricht, mit ihren eigenen Augen zu erleben oder den Blick abzuwenden und wegzuschauen. (Boshko Boskovic)

Selma Selman wurde 1991 im Roma-Gemeindedorf Ružica in Bosnien und Herzegowina geboren. Nach dem Studium der Malerei an der Fine Arts Academy in Banja Luka absolvierte sie ihren MFA in Transmedia Visual and Performing Arts an der Syracuse University, New York. Sie hat ausgiebig in Europa und den USA ausgestellt und ihre Arbeiten sind in zahlreichen internationalen Sammlungen vertreten. Sie nahm am FutuRoma-Pavillon der Biennale 2019 in Venedig teil. 2021 erhielt sie die Rijksakademie-Residenz in Amsterdam. Selman ist die Initiatorin des pädagogischen Aktivistenprogramms "Get the Heck to School", in dem sie Stipendien für Mädchen finanziert, damit diese die Grundschule in ihrer Heimatstadt Bihac, Bosnien und Herzegowina besuchen können.


Öffnungszeiten:
Dienstag - Sonntag (Feiertage): 11:00 - 18:00 Uhr
Donnerstag: 11:00 - 20:00 Uhr
Montag: geschlossen

Weitere Informationen direkt unter: kasselerkunstverein.de

Selma Selman, I dreamt I was a lion, Kasseler Kunstverein © Foto: Nicolas Wefers
02.09. - 24.10.2021

Selma Selman: Don't look into my eyes

Kasseler Kunstverein e. V.

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34117 Kassel