Die Ausstellung NACHTWACH BERLIN – Spaziergänge mit Schildkröte präsentiert Fotografien, die eine ungewöhnliche Szenerie festhalten: eine Schildkröte flaniert durch das nächtliche Berlin und zieht den Schriftsteller David Wagner mit sich. Der Fotograf Ingo van Aaren verfolgt das ungleiche Paar durch eine Stadt, die anders aussieht, als wir sie kennen. Seine Fotografien zeigen Schildkröte und Schriftsteller allein am Brandenburger Tor, auf dem menschenleeren Alexanderplatz und der verwaisten Oberbaumbrücke – die beiden haben die leergezauberte Stadt ganz für sich.

Neben Ingo van Aarens Fotografien stehen Texte von David Wagner, Nachtstücke, die von der Verwandlung der Stadt zwischen halb vier und fünf Uhr morgens erzählen; Feuilletons, wie David Wagner sie in seinen Büchern Welche Farbe hat Berlin und Mauer Park über die Tagseite der Stadt geschrieben hat.

In den Jahren 1927–1940 arbeitete Walter Benjamin am berühmten „Passagen-Werk“, eines Porträts über Paris im 19. Jahrhundert unter dem Eindruck des aufkommenden Kapitalismus und der wachsenden Industrialisierung. Aus Gassen wurden Alleen, aus kleinen Läden wurden langgezogene Geschäftspassagen, die Straße als öffentlicher Raum entstand. Es etablierte sich der Begriff des Flaneurs, eines Spaziergängers durch die Stadt, der bewusst Langsamkeit und Achtsamkeit betonte; der durch Anonymität Freiheit und Individualität gewann. Auf die (ironische) Spitze getrieben wurde die Idee des Flanierens von Pariser Bohèmiens, die Schildkröten spazieren führten. Heute befinden wir uns am Übergang vom industriell geprägten Kapitalismus der Zeit Walter Benjamins mit analoger Beschleunigung hin zum Informationszeitalter des 21. Jahrhunderts. Eine zweite Welle der Geschwindigkeit bestimmt nun die Welt, die Digitalisierung aller Lebensbereiche.

Nach Paris und London als den ersten durch Industrialisierung und Massenkonsum geprägten Städten wurde New York Welthauptstadt in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Dennoch ist Berlin die beispielhafte Stadt des 20. Jahrhunderts. Alle großen Ideologien manifestierten sich hier. Aus der Monarchie wurde 1918 eine Demokratie, die sich in eine faschistische Diktatur verwandelte. Nach dem zweiten Weltkrieg und dem Bau der Berliner Mauer lebte eine Hälfte der Stadt unter sozialistischer Herrschaft. Bis heute sind in der Berliner Architektur und Stadtplanung all diese Gesellschaftsformen zu erkennen.

Schriftsteller und Fotografen sind Flaneure par exellence. Ohne Flanieren wären beide Kunstformen undenkbar. Für den sprachlichen ebenso wie für den visuellen Chronisten ist die Auseinandersetzung mit den sozialen und räumlichen Strukturen des Urbanen unerlässlich. Angefangen mit Eugène Atget, Vivian Maier, Diane Arbus, Robert Frank und Joel Meyerowitz bis zu Henry Miller, Susan Sonntag, Paul Auster und Teju Cole ist die Stadterfahrung für viele Künstlerinnen und Künstler unabdingbar.

Fototheoretisch fußt das Projekt auf dem Werk Die helle Kammer von Roland Barthes. Fotografie beinhaltet Studium und Punctum, d.h. eine Verbindung zu einer kulturellen bzw. mythologischen Ebene, aber auch eine direkte Verbindung zum Betrachter, die ohne Wissen um die kulturhistorische Ebene funktionieren sollte. (Judith Butler hat dies später mit frame und affect umschrieben.) Die Figur der Schildkröte mit ihrer Tradition in Literatur und Mythologie verkörpert das Wesen einer solch lang zurück reichenden Ebene, ebenso wie David Wagner als Schriftsteller unsere derzeitige Kultur widerspiegelt.

Ingo van Aaren und David Wagner ziehen durch das nächtliche Berlin und erobern sich die Stadt zurück. Die Idee des urbanen Flaneurs mit der Schildkröte aus dem 19. Jahrhunderts wird in die Gegenwart geholt. Die Stadt schläft und Nischen tun sich auf: eine Gegenwelt entsteht, die Dunkelheit macht Wege möglich, die der Tag verstellt. Eine Nachtwanderung, ein Gang in die Stille auf der Schwelle des Tages. Wem gehört die Stadt morgens um 4 Uhr? Was bedeutet Entschleunigung und Achtsamkeit heute? Was sieht man, wenn Dunkelheit die Szenerie beherrscht? Und wann geht die Sonne auf?

Ingo van Aaren
studierte Mittlere und Neuere Geschichte, Anglistik und Amerikanistik in Köln, Rom und Berlin und besuchte die Slade School of Art in London. Er setzt sich in seinen künstlerischen Arbeiten mit dem Wechselspiel von persönlicher Identität und räumlich- urbaner Umgebung auseinander. Zudem porträtiert er bekannte Persönlichkeiten wie Herbert Grönemeyer, Anke Engelke, Max Raabe, Benno Fürmann oder Annette Frier. Zu seinen Kunden zählen die Frankfurter Allgemeine Zeitung, der Axel Springer Verlag, Rowohlt, Random House, Universal und MTV. Er lebt in Berlin.

David Wagner
studierte Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaften in Bonn, Paris und Berlin. Im Jahr 2000 erschien sein Roman Meine nachtblaue Hose, es folgten u.a. die Bücher Spricht das Kind, Vier Äpfel und Welche Farbe hat Berlin, ebenso wie Leben , ausgezeichnet mit dem Preis der Leipziger Buchmesse 2013 und dem Best Foreign Novel of the Year Award 2014 der Volksrepublik China. 2014 war David Wagner Friedrich- Dürrenmatt-Professor für Weltliteratur an der Universität Bern. Zuletzt erschienen Der vergessliche Riese , für den David Wagner 2019 den Bayrischen Buchpreis erhielt, und Alle Jahre wieder. Er lebt in Berlin.

Ingo van Aaren, Nachtwach Berlin, Kolonnaden © Ingo van Aaren,
11.12.2022 - 12.02.2023

Ingo van Aaren und David Wagner: NACHTWACH BERLIN – Spaziergänge mit Schildkröte

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