Wer hat nicht schon einmal Sehnsucht gehabt die Weite abgeschiedener Gletscherlandschaften zu erleben. Wie faszinierend ist es, das minutiöse Gefüge eines Schneekristalls in mikroskopischem Detail zu sehen? Wie (über)lebt man in eisigen Welten und welche Kulturen entwickelten sich dort im Laufe von Jahrtausenden? Welche Beschaffenheit hatte das Taunusgebirge während des letzten glazialen Maximums vor rund 20.000 Jahren? Wie können wir uns die Flora und Fauna vor Ort in einer Zukunft geo-logischer Zeitrechnungen vorstellen? Oder die tosende Energie eines kalbenden Gletschers, dokumentiert und visualisiert durch die Technik einer Wärmebildkamera oder mithilfe der Großformatfotografie? Und wie können wir das Ewige Eis angesichts der Klimaerwärmung schützen?

Die Ausstellung Ewiges Eis lädt die Besucher:innen ein, die Kältezonen der Erde mit ihren einmaligen Landschaften und Lebensräumen sowie verschiedene Formen von Eis und Schnee zu erkunden. 19 künstlerische Positionen verdeutlichen dabei wie nah beieinander überwältigende Schönheit und auch Zerbrechlichkeit der schwindenden Eismassen liegen. Künstler:innen aus aller Welt ermöglichen tief berührende Einblicke in die schützenswerten eisigen Regionen der Erde und verdeutlichen die tiefgehenden Verflechtungen von Mensch und Natur.

Von der Arktis zur Antarktis, von Sibirien bis zu den Anden bieten die zeitgenössischen Arbeiten vielfältige Blickwinkel auf „ewiges Eis“: epische Landschaftsaufnahmen der letzten Jahre, eindringliche historische Fotodokumentationen schmelzender Kryosphäre, Porträts von Menschen und ihren Lebensräumen im Eis oder Mikroaufnahmen von Schneekristallen. Ergänzend zur Kunst und Gegenwartskultur der nördlichen Breiten und alpinen Zonen nimmt eine digitale Visualisierung geologischer Erdzeitalter in Mitteleuropa am Beispiel des Taunusgebirges die Betrachter mit auf eine Zeitreise vom Mammut bis ins 22 Jahrhundert. Die Ausstellung Ewiges Eis zeigt auch individuelle Ansichten und Einsichten in indigene Kulturräume, in denen die Anpassungsfähigkeit der Bewohner:innen an ein extremes Klima notwendige Voraussetzung für das tägliche Miteinander ist.


Einblicke in die Ausstellung

Das globale Interesse, die extremen Bedingungen, die weiten Anreisewege und damit verbundene hohe Kosten machen für Kunstschaffende ein methodisches Vorgehen und eine langfristige Planung für ihre Arbeiten über Gletscher und Polregionen unabdingbar. Deshalb ist die ungewöhnlich große Verflechtung von Kunst und Wissenschaft sicher kein Zufall: Von den eingeladenen Künstler:innen lehren etwa Olafur Eliasson, Daniel Gilgen vom Institut für Digitale Museumsmedien, Tyrone Martinsson und Susan Schuppli an etablierten Universitäten. Im Rahmen von interdisziplinären Forschungsprojekten nehmen Künstler:innen, darunter Nathalie Grenzhaeuser, Mariele Neudecker und Susan Schuppli, regelmäßig an ausgewiesenen wissenschaftlichen Forschungsreisen teil.

Künstlerisches Schaffen vor Ort
Künstler:innen aus indigenen Kulturen bieten in der Ausstellung beeindruckende Einblicke in Vergan-genheit, Gegenwart und bedrohte Lebensräume. In unterschiedlichsten Medien bringen sie den Betrachtenden zentrale Lebensinhalte ihrer Heimat und dem Leben in Eis und Schnee kreativ näher. So erzählen die erlesenen Stickereien der schwedischen Sami-Künstlerin und documenta-14-Teilnehmerin Britta Marakatt-Labba in ihrer eigenen Bildersprache die Geschichte(n) der lappländischen Rentierhalter des hohen Nordens. Für seine Fotoserie I Am Inuit bereiste der zur Volksgruppe der Inupiaq gehörige Fotograf Brian Adams Alaska, porträtierte fotografisch seine Landsleute und schrieb ihre Geschichten auf. Entstanden ist ein vielstimmiges Porträt, das einen Einblick in das Leben der Inuit gibt. Daneben geben seine Landschaftsaufnahmen Eindrücke vom Leben im Eis, sei es ein dahingleitender Hundeschlitten in der Ferne, ein Eisbär in sicherem Abstand oder die Neubausiedlung am Berghang.

Die Poetin Kathy Jetñil-Kijiner und die Schriftstellerin Aka Niviâna bilden ein Duo: Aus völlig unterschiedlichen Regionen stammend, wollten sich beide künstlerisch zu ihrem bedrohten Lebensraum äußern – auf Grönland ändert er sich durch das schmelzende Eis, wohingegen der steigende Meeresspiegel auf den flachen Marshall-Inseln Land und Menschen bedroht. Das gemeinsam gestaltete Kurzvideo "Rise: From One Island to Another" führt die Betrachtenden auf sehr poetische Weise in die heimatliche Umgebung der beiden Frauen, verbunden mit dem dringenden Appell an alle Erdbewohner, ihre Verhaltensweisen zugunsten von Natur und Klimaschutz zu ändern.

Reisende ins Eis
Eine große Anzahl von Werken über die Kältezonen der Erde entsteht auf Reisen, wobei die Schaffen-den unter den extremen Bedingungen ihrer Arbeitsorte oftmals an physische und psychische Grenzen stoßen. Ein Beispiel dafür ist die „entropische“ Fotoserie, entstanden auf einer Polarnacht-Expedition Julian Charrières im Eismeer rund um Island, wo er in einem Akt ästhetischen Protests acht Stunden lang auf einem schwimmenden Eisberg mit einer Gaslampe das Eis ‘schmolz’. Das physikalische Gesetz der Entropie besagt, dass sich die Temperatur zwischen einer kalten und einer warmen Ausdehnung/Materie langfristig angleicht – fatal im Hinblick auf das Weltklima.

Die langfristige Veränderung von Eislandschaften steht im Fokus von zwei Fotoserien: Olafur Eliassons "The Glacier Melt Series 1999/2019" und Tyrone Martinssons "Time Series of all Glaciers in Magdalenefjorden, Svalbard 1818–2016". Ersterer dokumentierte auf zwei Rundreisen die Gletscher seiner isländischen Heimat im Abstand von 20 Jahren, gesehen jeweils vom gleichen Standort. Deutlich sichtbar wird bei diesem methodischen Vorgehen der Rückgang der Eismassen. Ebenso systematisch erstellte Martinsson mit Archivmaterial eine historische Fotosequenz aller Gletscher im äußersten Nordwesten der Insel Spitzbergen seit Anfang des 19. Jahrhunderts, die auch die Landnutzungsänderung aufzeigt. Ebenfalls auf Spitzbergen fotografierte Nathalie Grenzhaeuser bei mehreren Arbeitsaufenthalten die vielfältigen wissenschaftlichen Einrichtungen sowohl in Farbe als auch in Schwarz-Weiß, immer mit sorgfältigem Augenmerk auf Licht und Ästhetik.

Die Finnin Tiina Itkonen bereist seit Jahren die Westküste Grönlands, wo sie auf über 1.500 Kilometern vom Hundeschlitten, aus der Luft und auf dem Meer fotografierte. Von bewegender Schönheit sind ihre Aufnahmen isoliert stehender Behausungen und des naturgewaltigen Ilulissat-Eisfjords, einer 6 km breiten und rund 55 km langen Eisberglandschaft, die seit 2004 Unesco-Welterbe ist. Auch den in Bayern lebenden Fotografen Olaf Otto Becker zog es zum Ilulissat, wo er mit seiner Großbildkamera die immensen Gletscher von der Landseite aus aufnahm und als Triptychon verewigte. Weder Beckers Landblick noch Itkonens Sicht vom Meer her geben wirklich Aufschluss über die tatsächlichen Größenverhältnisse des Eisfjords – Teil der Faszination dieses Landstrichs. Im Gegensatz dazu dokumentierte Thomas Wrede den Eingriff in die Natur und dessen Folgen unter anderem in Gletscherregionen der Schweiz. Dort soll der Rhonegletscher durch Verhüllung mit Planen vor der Sonneneinstrahlung geschützt werden, um von Menschenhand geschaffene Eishöhlen als Touristenattraktion zu erhalten. Der Erfolg dieses Experiments bleibt aus.

Eiskristalle
Die Beschäftigung mit Naturphänomenen veranlasste die Zwillinge Doug und Mike Starn, eine technisch äußerst komplizierte Aufgabe zu meistern: im New Yorker Atelier einzelne Schneekristalle mikroskopisch isoliert zu fotografieren. Das Ergebnis sind elementare Fotoreihen, bei denen auf dunklem, quadratischem Hintergrund äußerst poetische, zarte Gebilde schweben. Außerdem wurde im Lauf zahlreicher Aufnahmen klar, dass über die Grundstruktur des sechsgliedrigen Aufbaus hinaus jede einzelne Schneeflocke ein völlig individuelles Aussehen hat. Wie die DNS des Menschen gleicht keine einer anderen, womit eine essenzielle Einsicht in die Beschaffenheit einer bis ins kleinste Detail vielfältigen Natur anschaulich wird. Auf dem natürlichen Entstehungsprozess von Eiskristallen beruhen auch die von Wilhelm Scheruebl entwickelten Minusaquarelle. Sie bilden sich, wie der Name schon sagt, bei winterlichen Temperaturen auf farbbeschichteten Papierbögen, die der aus Österreich stammende Künstler im Freien auslegt. Die Abstraktionen der alpinen Eisblumen weisen eine intensive Farbigkeit auf, mit mannigfaltigen Oberflächenstrukturen.

Installation, Video und Objekt
Kunst wird in der Ausstellung auch mit Hilfe neuester Medientechnik sensorisch und räumlich erfahrbar. In einem wissenschaftlich fundierten, digitalen Diorama simuliert das Institut für Digitale Museumsmedien in der Installation Time Shift einen Zeitstrahl zur Rhein-Main-Ebene seit dem letzten glazialen Maximum vor rund 20.000 Jahren und projiziert auch eine Prognose für die Flora und Fauna der Zukunft in geologischer Zeitrechnung. Ein eiszeitlicher Mammutzahn aus der Rheinebene verdeutlicht ergänzend Regionalgeschichte als haptisches, prähistorisches Fundstück – eine Leihgabe aus der Sammlung des Senckenberg Naturmuseums Frankfurt.

Die tosende Energie eines kalbenden Gletschers im Arktischen Archipel visualisiert die Künstlerin und Wissenschaftlerin Susan Schuppli mithilfe einer Wärmebildkamera auf zwei Videokanälen. Kamerafallen mit Bewegungsmeldern sind Ignacio Acosta u.a. dienlich für seine neue Video-Installation, in der er Probebohrungen der Montanindustrie in den Anden Chiles hinterfragt. Der vom sibirischen Baikalsee stammende Ivan Murzin nutzt in seiner Wandinstallation digitale Techniken, um Narrative aus seiner Kindheit aufzuarbeiten: Analoge Erinnerungsfotos und von ihm kreierte Muster sind als Wandtapete für eine öffentliche Rezeption reproduziert. An der Schnittstelle von Analogem und Digitalem sowie Wissenschaft und Kunst arbeitet auch Mariele Neudecker: Ihre Expeditionen in beide Polarzonen verarbeitet sie künstlerisch in origineller Objektkunst wie die im Museum Sinclair-Haus gezeigte Arbeit 400 Tausend Generationen, erstellt in Mischtechnik aus Stahl und Fiberglas.

Eisschmelze in der Arktis und der Antarktis
Treibende Kraft der intensiven Auseinandersetzung mit dem „ewigen Eis“ sind auch die tiefgreifenden globalen Veränderungen durch den Klimawandel. Weltweit führende Institutionen aus Wissenschaft und Politik sammeln, analysieren und erforschen systematisch die Daten der Kryosphäre, unter anderem um dadurch Rückschlüsse auf unmittelbare Einflüsse auf das globale Klima zu ziehen. Die Schmelzeis-Grafiken der National Aeronautics and Space Administration (NASA) beispielsweise sind öffentlich einsehbar. Aktuelle Messungen vom Februar 2022 zeigen, dass das Meereis um die Antarktis seit Beginn der Satellitenaufzeichnung im Jahr 1979 die bisher niedrigste dokumentierte Ausdehnung hatte. Dagegen schien das insgesamt ebenfalls rückläufige arktische Meereis am 25. Februar 2022 seine jährliche maximale Ausdehnung erreicht zu haben, wobei die diesjährige Winterausdehnung die zehntniedrigste in den Satellitenaufzeichnungen des National Snow and Ice Data Center (NSIDC) darstellt. Die schwindenden Schnee- und Eismassen weltweit führen deutlich vor Augen, dass die Erde ein zusammenhängendes System ist, mit dem jeder einzelne Mensch in Verbindung steht.

Die Ausstellung Ewiges Eis ermöglicht durch Kunst der Gegenwart kulturelle, gesamtpolitische und soziale Zusammenhänge aufzuzeigen, auch im Hinblick auf die inzwischen allseits präsente, fortschreitende globale Eisschmelze, deren spezifische regionale Auswirkungen und auf das Weltklima insgesamt. Zusätzlich zu den gezeigten Arbeiten kommen die Künstler:innen möglichst auch mit eigenen Texten und individuellen Stimmen zu Wort. Beiträge finden sich beispielsweise in Gedichtform (Kathy Jetñil-Kijiner und Aka Niviâna), als Logbuchaufzeichnungen (Susan Schuppli), im Videoformat, als Interviewaufzeichnungen von Porträtierten (Brian Adams) sowie in von den Künstler:innen verfassten Begleittexten oder zu den Arbeiten selbst.

© Tiina Itkonen
25.09.2022 - 12.02.2023

Ewiges Eis

Museum Sinclair-Haus

Löwengasse 15
61348 Bad Homburg vor der Höhe