Im Mittelpunkt der Ausstellung steht eine Serie von Zeichnungen, die für die Sammlergruppe TWODO entstanden sind. Allesamt mit dem Titel Flaw versehen zeigen die Zeichnungen bis ins kleinste Detail den alltäglichen Staub und Dreck im Haus der Künstlerin. Im Englischen kann “flaw” Fehler oder Unvollkommenheit bedeuten, und ausgesprochen klingt es wie “floor“, also Fußboden – das Terrain, das für diese Zeichnungen erschlossen wurde. Neben den Flaw-Zeichnungen werden verwandte Arbeiten präsentiert, darunter die Zeichnung Phantom (2021) und zwei von Davis Bewegtbildarbeiten, Charity (2017) und Weight (2014). Alle diese Arbeiten haben ein gemeinsames Interesse an den Fragen von Wert, feministischer Ökonomie und der Stellung des Kunstschaffens im Verhältnis zu anderen Formen von Arbeit.

Statement der Künstlerin
I don’t have to know what it’s all about.
That’s not what I’m trying to know.
It’s the looking that matters,
The being prepared to see what there is to see.
Staring has to be done…‘ * Margaret Tait, Seeing’s Believing and Believing’s Seeing  (1958)

"Ich muss nicht wissen was es damit auf sich hat.
Das will ich auch gar nicht wissen.
Es ist das schauen, das zählt,
Die Bereitschaft zu sehen, was es zu sehen gibt.
Es muss gestarrt werden...." (Übersetzung des Verfassers)

Margaret Tait, Seeing’s Believing and Believing’s Seeing  (1958)

Das ist die Krux von FLAW – eine Gelegenheit zum Starren. Auf Staub auf dem Fußboden zu starren. Oder auf Staub auf einem Papier.

Ich habe mit einer Postkarte angefangen. Eine Postkarte eines römischen Mosaiks mit dem Titel Der ungefegte Boden. Das Mosaik erweckt den Eindruck, als seien die Überreste eines üppigen Festmahls darauf verteilt worden. Dieses Bild und der Titel gaben mir den Anstoß, die Idee des ungefegten Bodens – die Vernachlässigung der häuslichen Arbeit – als feministischen Ansatz für meine Arbeit zu übernehmen. Ich begann, den Dreck und die Krümel von unserem Küchenboden zu zeichnen (nicht die Reste eines Festmahls, sondern die alltäglichen Dinge, die sich ständig, deplatziert und unerwünscht, auf einem Boden oder der Herdplatte ansammeln). Ich habe die Hausarbeit aufgegeben, um künstlerische Arbeiten zu schaffen.

In ihrem Vortrag Professions for Women von 1931 bezeichnete Virginia Woolf dies als „Tötung des Engels” – die Überwindung der Figur der Frau als göttliche Versorgerin / unbezahlte Putzfrau, um ihrer literarischen Arbeit nachgehen zu können. Sie sah darin jedoch nicht die einzige Herausforderung, die es zu bewältigen galt. Woolf schreibt:

These were two of the adventures of my professional life. The first – killing the Angel in the House – I think I solved. She died. But the second, telling the truth about my own experiences as a body, I do not think I solved. I doubt that any woman has solved it yet. The obstacles against her are still immensely powerful – and yet they are very difficult to define.‘ ** Virginia Woolf, Professions for Women (1931)

"Das waren zwei der größten Abenteuer meines Berufslebens. Das erste - das Töten des Engels im Haus - habe ich, glaube ich, gelöst. Sie ist gestorben. Aber das zweite, die Wahrheit über meine eigenen Erfahrungen als Körper zu erzählen, habe ich, glaube ich, nicht gelöst. Ich bezweifle, dass irgendeine Frau sie bisher gelöst hat. Die Hindernisse, die sich ihr in den Weg stellen, sind immer noch immens groß - und doch sind sie sehr schwer zu definieren." (Übersetzung des Verfassers)

Neunzig Jahre später ist Woolfs geschlechtsspezifischer Fokus zwar überholt, aber die Hindernisse und Phantome tauchen weiterhin auf und behindern viele Körper. Es mag verrückt erscheinen, auf Schmutz zu starren, aber die Arbeit an Zeichnungen von häuslichem Schmutz wurde zu meiner Art, mich mit einigen der Geister auseinanderzusetzen, die Woolf beschreibt.

Bei der Arbeit an FLAW dachte ich auch an Maria Sibylla Merian (1647 – 1717), eine in Deutschland geborene Künstlerin, Abenteurerin und eine der ersten Entomologinnen. Sibylla Merian war an der Darstellung des Lebenszyklus einer Schnecke ebenso interessiert wie an der Darstellung eines verführerischen Schmetterlings. Es sind ihre exquisiten Studien der Flora und Fauna, die normalerweise nicht im Mittelpunkt stehen, zu denen ich mich am meisten hingezogen fühle. FLAW konzentriert sich auf das, was buchstäblich unter den Teppich gekehrt werden sollte, und ist ein Versuch, dieses einfache Material mit der gleichen Intensität darzustellen wie es Sibylla Merians Studien vermögen – sie behandelt das Fett auf der Herdplatte wie ein naturwissenschaftliches Forschungsobjekt. Ich interessiere mich für die routinemäßigen, sich wiederholenden, aber wesentlichen Aspekte des Lebens, die man tun muss, um zur Arbeit zu gelangen – ich interessiere mich dafür, dass diese Aspekte zur Arbeit werden. Man muss bereit sein, zu sehen, was es zu sehen gibt. Es muss gestarrt werden. - Kate Davis, 2022


Über die Künstlerin: Kate Davis (*1977 in Neuseeland) studierte an der Norwich School of Art and Design und der Glasgow School of Art. Davis arbeitete von 2001 bis 2003 als Vorstandsmitglied der Transmission Gallery in Glasgow. Zu ihren Einzelausstellungen zählen: Nudes Never Wear Glasses, Stills, Edinburgh; The Unswept Floor, Dunedin Public Art Gallery, NZ; Not Just the Perfect Moments, The Drawing Room, London; Eight Blocks or a Field, Temporary Gallery, Köln; Ranziges Fett, Galerie Kamm, Berlin; ¿Qué tenemos que hacer con una habitación propia? Museo de la Ciudad und La Galeria de Comercio, Mexiko; Your Body is a Battleground Still, Tate Britain, London; Waiting in 1972; what about 2007?, Einzelausstellung mit Sorcha Dallas, Art Basel; Stop! Stop! Stop!, Kunsthalle Basel. Sie nahm an folgenden Gruppenausstellungen teil: Chips and Egg, The Sunday Painter, London; 35. Kasseler Dokumentarfilm- und Videofest; Klassentreffen, MUMOK, Wien; A Slice Through the World: Contemporary Artists’ Drawings, Modern Art Oxford; Art Under Attack: Histories of British Iconoclasm, Tate Britain; For Each Gesture Another Character, Art Stations Foundation, Poznan, Polen; Olinka or Where Movement is Created, Museo Rufino Tamayo, Mexico City. Davis lebt und arbeitet in Glasgow.

Ein besonderer Dank der Künstlerin geht an:
Dominic und Peter Davis Paterson, Sandra Davis, Luke Collins, Simon Harlow, Andrew Mummery, Adam Szymczyk, die TWODO Gruppe, LUX und LUX Scotland, Creative Scotland und den Elephant Trust.

06.11. - 05.12.2022

Kate Davis: FLAW

Neuer Aachener Kunstverein

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