Der Neue Berliner Kunstverein (n.b.k.) zeigt erstmalig in Berlin eine Einzelausstellung mit neuen Werken von Ghislaine Leung. Ausgehend von einem streng konzeptuellen und zugleich persönlichen Ansatz setzt sich die Künstlerin in einer Reihe von Scores mit den administrativen, finanziellen und infrastrukturellen Prozessen des Ausstellens auseinander. Durch Gesten des Rückzugs und der Verweigerung legt Leung den Fokus auf die reproduktiven Aspekte institutionellen Arbeitens, die maßgeblichen Einfluss auf das Ergebnis künstlerischer Produktion und Rezeption nehmen, jedoch meist unsichtbar bleiben. Die Ausstellung mit dem Titel Reproductions greift diese verborgenen Aktivitäten auf. So werden die zahlreichen Abläufe außerhalb der künstlerischen Einflussnahme aufgezeigt, die erforderlich sind, um den neutralen Status zeitgenössischer Ausstellungen zu erschaffen und zu erhalten.
Leungs Ausstellung im n.b.k. macht deutlich, dass künstlerische Produktion in eine Reihe von Vorgängen und Abhängigkeiten institutioneller, individueller und sozialer Art eingebettet ist – und dass institutionelles Handeln selbst zahlreichen Bedingtheiten unterliegt. Leung bietet eine Herangehensweise an, die nicht trotz dieser Abhängigkeiten besteht, sondern sie als Material begreift, das es zu formen und auszugestalten gilt. Seit 2015 basieren ihre Werke überwiegend auf Scores – schriftlichen Handlungsanweisungen, deren Umsetzung der Kunstinstitution und ihren Mitarbeiter*innen überlassen wird.
Durch den bewussten Verzicht auf künstlerische Kontrolle und die Öffnung ihres Werkes erkennt Leung die bestehende institutionelle Arbeit an – von der Verwaltung über die Kuration bis hin zur Ausstellungsinstallation –, die die künstlerische Produktion maßgeblich prägt. Die Form des Scores erlaubt es ihr, sich den gängigen Erwartungshaltungen an Künstler*innen zu entziehen. So arbeitet sie ohne externes Atelier und Kunstlager, verzichtet auf Kunsttransporte, nimmt weder am Aufbau noch an der Eröffnung ihrer Ausstellungen teil und erscheint nicht auf Pressebildern. Diese und weitere Selbstinstruktionen, die Leung als „Sub-Scores“ bezeichnet, werden von ihr mit dem Ziel befolgt, die eigene Praxis sowohl wirtschaftlich als auch emotional nachhaltig zu gestalten. Leungs Handlungen weisen nicht nur dezidiert das Diktum individualisierter Produktivität zurück, sie schaffen zugleich Kapazitäten für andere Aufgaben in ihrem Leben, nämlich für ihr Kind zu sorgen und ihre bezahlte Arbeit aufrechtzuerhalten – und dadurch weiterhin als Künstlerin tätig sein zu können.
Viele von Leungs Scores können mithilfe eines simplen Eingriffs oder Objekts aktiviert werden. Trotz ihrer Einfachheit provozieren die Instruktionen eine Reihe von Anschlussfragen und Aushandlungsprozessen, die den institutionellen Modus Operandi herausfordern. Sie bringen Institutionen dazu, offenzulegen, wie sie ästhetische Entscheidungen treffen und Produktionsbedingungen festlegen – kurz: Verantwortung für ihren Anteil an der Materialisierung des Werkes zu übernehmen. Leungs Ansatz macht jene Aspekte des Ausstellens anschaulich, die unsere Wahrnehmung leiten, ohne selbst sichtbar zu werden. Die Künstlerin fragt danach, wie institutionelle Normen internalisiert und durch unsere Handlungen reproduziert werden. Diesen Kreislauf stört Leung gezielt, indem sie Vertrauen an die Stelle künstlerischer Kontrolle setzt und sich zugunsten eines generativen Prozesses von etablierten Regeln des Kunstsystems verabschiedet. Sie legt durch den eigenen Rückzug nicht nur offen, wie gearbeitet wird, sondern auch, welche Art Arbeit verborgen bleibt und weshalb.
Biografisches:
Ghislaine Leung (*1980 in Stockholm, lebt in London) präsentierte ihr Werk in zahlreichen Einzelausstellungen, u. a.: Kunsthalle Basel; The Renaissance Society, Chicago (beide 2024); Simian, Kopenhagen (2023); Ordet, Mailand; Museum Abteiberg, Mönchengladbach (beide 2021); Netwerk, Aalst / Belgien; Künstlerhaus Stuttgart (beide 2019); WIELS, Brüssel (2016). 2018 veröffentlichte sie ihr Buch Partners (Cell Project Space), 2023 folgte Bosses (Divided). 2023 wurde sie für den Turner Prize nominiert.
Öffnungszeiten:
Dienstag - Mittwoch: 12:00 - 18:00 Uhr
Donnerstag: 12:00 - 20:00 Uhr
Freitag - Sonntag: 12:00 - 18:00 Uhr
Montag: geschlossen
Weitere Informationen direkt unter: nbk.org