In der Ausstellung Togetherness. Comics & Graphic Novels werden künstlerische Positionen gezeigt, die die vielseitigen Facetten von Freundschaft, Zugehörigkeit, Liebe und (queeren) Beziehungen im Medium Comic und Graphic Novel erforschen. Die Zeichner*innen beschäftigen sich mit gesellschaftlichen Normen, Rollenklischees, Intimität, Körper- und Geschlechtsvorstellungen, Identitätsfragen und Selbstoptimierung. Die gezeigten Arbeiten umfassen persönliche Erfahrungen, Gesellschaftsbeobachtungen, fantastischen Geschichten und humorvolle Erzählungen.
In der Ausstellung werden Zeichnungen und Texte von Nino Bulling (*1986, Deutschland), Lina Ehrentraut (*1993, Deutschland), Tommi Parrish (*1989, Australien) und Marijpol (*1982, Deutschland) gezeigt und teils durch skulpturale Arbeiten und Objekte ergänzt. Einige Arbeiten wurden explizit für die Ausstellung im Kunsthaus neu geschaffen und werden hier exklusiv zum ersten Mal der Öffentlichkeit vorgestellt. Die Ausstellung untersucht nicht nur das Verhältnis von Bildern und Texten, sondern erprobt experimentelle, räumliche Präsentationsformen, um die ursprünglich in Buchform erzählten Geschichten in den Ausstellungsraum zu transferieren.
Die Arbeiten der vier Künstler*innen werden auf drei Etagen ausgestellt. Im Erdgeschoss startet der Rundgang mit einer Auswahl aus den Comics von Nino Bulling und Tommi Parrish. In den Arbeiten von Tommi Parrish aus „Menschen vertrauen“ geht es um die Frage, wie wir Nähe und Vertrauen in Beziehungen aufbauen können und wo Grenzen zu Intimität verlaufen. Die Protagonistin ist Eliza, eine alleinerziehende Mutter und Dichterin, die in Selbsthilfegruppen Unterstützung sucht. Durch ihre Begegnung mit Sasha scheint sie eine neue Freundin zu finden, doch inwieweit ist diese Verbindung wirklich gesund?
Während die farbenfrohen, handkolorierten Arbeiten von Tommi ungerahmt gezeigt werden und anmuten als wären sie eben erst zum Trocknen aufgehängt worden, sind die Zeichnungen von Nino Bulling aus seinem Comic 2022 im Kontext der documenta fifteen erschienenen Buch „Abfackeln“ gerahmt. Dabei spiegeln die schwarz und weiß wechselnden Rahmen Ninos Arbeitsweise, die Bilder und das Lettering getrennt voneinander zu erstellen. Erzählt wird die Geschichte von Ingken, die sich nicht mehr als Frau fühlt und auf der Suche nach einer selbstbestimmten Identität ist. Bulling zeichnet persönliche Krise und Umbrüche vor dem Hintergrund globaler Klimaveränderungen nach. Ergänzend finden sich zwei großformatige, von der Decke hängende Quilts mit eindrucksvollen Zeichnungen auf glänzenden Seidenstoffen, die der Künstler in Handarbeit für das Kunsthaus neu produziert hat. Hier trifft das Medium des Comics in ungewöhnlicher Weise auf einen textilen Träger.
Comics und die darin enthaltenen Geschichten finden nicht nur im Buch statt. Das wird auch im zweiten Raum deutlich, in welchem Lina Ehrentrauts und Marijpols Werke zu sehen sind. Eine riesengroße, exklusiv für die Ausstellung im Kunsthaus produzierte, Spinne aus lila bedrucktem Stoff begrüßt die Besucher*innen beim Eintreten. Marijpol aka Marie Pohl hat das Material nach eigenem Design mit einem an Spitze und Dessous erinnernden Muster bedrucken lassen. Die Kreatur, die auch in Marijpols Comic „Hort“ eine Rolle als Haustier spielt, mutet so fast niedlich an. In dem ausgestellten Comic „Hort“ geht es um die drei außergewöhnlichen Frauen Ulla, Petra und Denise, die in einer Wohngemeinschaft leben. Ihre Lebensentwürfe sind von Unabhängigkeit und Selbstverwirklichung geprägt, bis sie eines Tages drei verlassene Kinder aus der Nachbarschaft bei sich aufnehmen und sie sich mit Fragen von Mutterschaft auseinandersetzen.
An den benachbarten Wänden finden sich Arbeiten von Lina Ehrentraut. Lina beschäftigt sich in dem Comic „Melek und ich“ mit Selbstliebe und unterschiedlichen Facetten des Ichs. Sie entwirft eine fiktive Wissenschaftlerin, der es gelingt, einen Körper zu bauen, mit dem sie in parallele Welten reisen kann, wo sie auf sich selbst trifft - eine Liebesbeziehung beginnt. Mit schwarz-weißen Comicsequenzen und atmosphärischen bunten Malereien kreiert Lina eine Mischung aus Romanze, Sci-Fi und Charakterdrama. Ebenfalls im Raum gezeigte Fotografien stellen Bezüge zu Linas selbst entworfenen Kleidungsstücken her, die auch von den Figuren im Comic getragen werden. Originale dazu sind im 2. OG zu finden.
Im dritten Raum sind alle vier Künstler*innen noch einmal vereint. Vitrinen geben hier mit Skizzenbüchern, Vorzeichnungen und Inspirationsmaterialien Einblicke in die verschiedenen Arbeitsweisen; zusätzliches Material und Objekte, sowie Comics in Buchform „zum Reinlesen“ geben die Möglichkeit, tiefer in die Erzählungen und den jeweiligen Ideenkosmos einzudringen. In der Kreativecke sind die Besucher*innen herzlich eingeladen eigene Geschichten zu erfinden!
Kuratiert wurde die Ausstellung von der Geschäftsführerin Dr. Dorle Meyer auf Grundlage des von Lotte Dinse erstellten Konzepts. „Frau Dinse hat zum Sommer das Haus gewechselt und sich einer neuen Herausforderung in Wiesbaden zugewandt, wofür das Kunsthaus-Team ihr alles erdenklich Gute wünscht. In enger Abstimmung mit der Stadt als unserer Muttergesellschaft haben wir entschieden, die Geschäftsführung und die künstlerische Leitung daher nun in eine Personalunion zu überführen.“ so Dorle Meyer, die damit zukünftig beide Bereiche verantwortet. Als Unterstützung hat im Juni die Kunsthistorikerin Antje Mebus die Assistenz der Geschäftsführung bei der Kunsthaus Göttingen gGmbH begonnen.
„Togetherness“ ist die mittlerweile 15. Ausstellung, die das Kunsthaus Göttingen organisiert hat und startet quasi zum 3. Geburtstag des im Sommer 2021 eröffneten Hauses. Anlässlich dieses Datums ist das Magazin „Looking back“ – 3 Jahre Kunsthaus Göttingen erschienen, das zur Eröffnung ausgegeben wird und auf der Website des Kunsthauses unter www.kunsthaus-goettingen.de als Download zur Verfügung steht.
Die Ausstellung ist ab Samstag 20.07., regulär geöffnet und läuft bis zum 10. November. Zum Eröffnungswochenende findet am Samstag um 11.15 Uhr ein dialogischer Rundgang mit den Künstler*innen Nino Bulling, Marijpol und der kuratorischen Assistentin der Ausstellung Antonia Reinhardt statt. Ein buntes Vermittlungsprogramm wird während der gesamten Laufzeit geboten und ist ebenfalls auf der Website zu finden. Für den Herbst sind als Highlights eine Comic-Lesung und ein Artist-Talk geplant.
Nino Bulling / Abfackeln (Edition Moderne, 2022)
Nino Bulling (*1986) arbeitet als Comiczeichner und -autor in Berlin. Kürzere und längere Arbeiten von Nino erscheinen seit 2012 in Buchform, online, in Anthologien oder in Eigenproduktion. 2017 veröffentlichte er bei Rotopol das grafische Gedicht Lichtpause und 2019 erschien in Co-Autor*innenschaft mit Anne König der Band Bruchlinien. Drei Episoden zum NSU bei Spector Books. Ninos Arbeiten bewegen sich im Grenzbereich zwischen Dokumentarismus und spekulativer Fiktion und erkunden die Möglichkeiten realitätsbasierter Bilderzählung jenseits realistischer Darstellungsweisen. Sprache und Zeichnung sind dabei gleichwertige Akteurinnen, die der Realität entnommen, untersucht, modifiziert und amalgamiert werden. Die Arbeiten widmen sich sowohl kritischen Gegenwartsthemen wie Rassismus und rechtem Terror oder der Rüstungsindustrie, als auch universellen Fragen nach Freund*innenschaft und Zugehörigkeit.
Bullings mit Unterstützung der documenta fifteen herausgegebene Publikation „Abfackeln“ beschreibt die Geschichte von Ingken. Ingken ist mit Lily zusammen, die mit sich und ihrem Leben im Reinen zu sein scheint. Ingken hingegen hat zu kämpfen, vor allem mit sich selbst. Vor dem Hintergrund globaler Klimaveränderungen ist Ingken auf der Suche nach einer selbstbestimmten Identität, einem neuen Namen, nach den Dingen, die bleiben dürfen, und solchen, die verschwinden sollen. Was macht uns als Menschen aus? Müssen wir alles niederbrennen, um uns neu zu definieren? Oder können wir auch an etwas festhalten? Es geht insgesamt um die ambivalenten Erfahrungen von Geschlecht, Intimität, Körper und Verwandtschaft.
Lina Ehrentraut / Melek und ich (Edition Moderne, 2021)
Lina Ehrentraut (*1993) lebt in Leipzig – dort hat Lina 2020 an der Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig in der Illustrationsklasse das Diplom gemacht hat. Zusammen mit dem Kollektiv SQUASH publiziert Lina das SQUASH-Zine, organisiert das Snail Eye Festival und stellt gelegentlich aus. Lina Ehrentraut macht Zines, Comics, Illustrationen, Fashion, Lesungen und Ausstellungen. Kleidungsstücke tauchen in Comics auf oder werden zu raumgreifenden Installationen. Die Themen kreisen um soziale und emotionale Aspekte zwischenmenschlicher Beziehungen, Sex und Selbstzweifel. Dabei lässt sich Lina von ihrem Alltag genauso wie von Science-Fiction Elementen inspirieren.
Protagonistin des Comics „Melek und ich“ ist die Wissenschaftlerin Nici, die sich gern in der Bar nebenan betrinkt. Heimlich baut sie Melek, einen Körper, mit dem sie in parallele Dimensionen reisen kann. In einer dieser Dimensionen begegnet sie in Meleks Körper Nici — also sich selbst — und geht mit ihr eine Beziehung ein. Lina Ehrentraut entführt in diesem Début in einer Mischung aus Romanze, Sci-Fi und Charakterdrama in eine Parallelwelt, in der alles sorglos möglich scheint: Doppelidentitäten, queere Beziehungen und Selbstliebe. Doch für wie lange? Gekonnt leitet Lina Ehrentraut in schwarz-weissen Comicsequenzen und atmosphärischen bunten Malereien durch die unterschiedlichen Erzählebenen.
Marijpol / Hort (Edition Moderne, 2022)
Marijpol alias Marie Pohl (*1982) studierte Visuelle Kommunikation und Illustration in Hamburg und an der Bezalel Academy in Jerusalem, u.a. bei Anke Feuchtenberger und Stefano Ricci. Ihre Comics erscheinen in internationalen Magazinen und Anthologien wie Canicola, Orang und Spring.
„Hort“ erzählt von drei Frauen Ende dreissig, die in einer Wohngemeinschaft leben. Ihr Lebensentwurf orientiert sich nicht an Partnerschaften oder fruchtbaren Jahren, sondern an ihrer größtmöglichen privaten und beruflichen Unabhängigkeit. Ihre außergewöhnlichen Körper tragen die Frauen mit Selbstbewusstsein: Petra ist Bodybuilderin und extrem muskulös, Ulla ist riesig und dick und Denise hat mit einem Schlangenarm ihren Körper modifiziert. Ihr Aussehen widerspricht üblichen Normen von Schönheit und Weiblichkeit und bestimmt durch seine Besonderheit ihr Leben mit. Als die Freundinnen drei verlassene Kinder aus der Nachbarschaft kennenlernen, bewegen sich ihre Gefühle zwischen besorgter Fürsorglichkeit und steifer Befangenheit. Die Frauen sind keine typischen Mutterfiguren, dennoch fühlen sie sich für die Kinder zuständig …
Tommi Parrish / Menschen Vertrauen (Edition Moderne, 2023)
Tommi Parrish (*1989) macht Cartoons und Malerei. Aufgewachsen in Australien, lebt Tommi heute im Westen von Massachusetts. Tommis Erstlingswerk «The Lie and How We Told It» wurde mit dem Lambda Literary Award 2019 für die beste LGBTQ-Graphic-Novel ausgezeichnet, war für den Ignatz Award nominiert, wurde in vielen Best-of-Listen 2018 aufgeführt und weltweit in elf Sprachen übersetzt.
In seinem Buch „Menschen vertrauen“ wird die Geschichte von Eliza erzählt. Eliza ist eine alleinerziehende Mutter und Dichterin in den Dreissigern. Sasha, eine Mittzwanzigerin, die sich nach einer neuen Richtung im Leben sehnt, ist gerade wieder bei ihren Eltern eingezogen und hält sich als Sexarbeiterin über Wasser. Die beiden schliessen eine ungewöhnliche Freund*innenschaft, die zu einer tiefgreifenden Erkundung einer grundlegend menschlichen und zugleich hochaktuellen Frage wird: Wie weit sind wir bereit zu gehen, um Intimität zu finden — und das in einer Gesellschaft, die diese immer weniger begünstigt? „Menschen Vertrauen“ handelt von Menschen, die nicht immer gesund sind und versuchen, in einer unzusammenhängenden Welt gesunde Beziehungen zu knüpfen.
Öffnungszeiten:
Donnerstag: 15:00 - 18:00 Uhr
Freitag - Sonntag: 11:00 - 18:00 Uhr
(am 1. Donnerstag im Monat bis 20:00 Uhr und Art after Work )
Weitere Informationen direkt unter: kunsthaus-goettingen.de
Düstere Straße 7
37073 Göttingen