Im Zentrum des Referenzsystems der Ausstellung „ÜberLeben – Fragen an die Zukunft“ steht der Film „Soylent Green“ von 1973, der im Jahr 2022 spielt und ein Zukunftsszenario entwarf, das von extremer Überbevölkerung und den dadurch hervorgerufenen ökologischen Problemen handelt.1 Auch die globale Erwärmung durch die Nutzung fossiler Brennstoffe wird thematisiert, lange bevor in der Wissenschaft darüber Konsens herrschte.2  Da die Ozeane leergefischt sind und nicht mehr genug Agrarflächen zur Verfügung stehen, werden die Menschen im Jahr 2022 von künstlich hergestellten Nahrungsmitteln ernährt, welche die ethisch korrumpierte Oberschicht von der Firma Soylent3 heimlich aus Leichen produzieren lässt. Die enthemmte Ausbeutung von natürlichen Ressourcen, so die Botschaft des Films, mündet in einem auf Gewalt beruhenden, sich gleichsam selbst verschlingenden Gesellschaftssystem, das alle moralischen und ethischen Prinzipien verloren hat.

Der Film gilt als erste massenwirksam rezipierte Ökodystopie und ist eng verbunden mit dem Beginn eines neuen Bewusstseins über die Gefährdung des Planeten durch den Menschen. So wurde am 22. April 1970 der erste „Earth Day“ begangen, um auf die globalen Probleme der Umweltzerstörung aufmerksam zu machen. 1971 wurde Greenpeace in Kanada gegründet. Im März 1972 veröffentlichte der Club of Rome seinen „Bericht zur Lage der Menschheit: Die Grenzen des Wachstums“ (The Limits to Growth). Im selben Jahr fand in Stockholm die erste Weltumweltkonferenz statt, und bei der 17. Apollo-Mission, die im Dezember 1972 startete und bei der zum letzten Mal ein Mensch den Mond betrat, wurde das sogenannte „Blue Marble“-Foto unseres im Weltall treibenden Planeten aufgenommen. Viele Umweltbewegungen haben den darin aufgehobenen „Overview-Effekt“, der sowohl die unermessliche Schönheit als auch die Gefährdung unseres Planeten beinhaltet, als Symbol aufgegriffen. Richard Buckminster Fuller prägte schon etwas früher den damit verbundenen Begriff „Raumschiff Erde“ durch seine 1968 erschienene Publikation „Operating Manual for Spaceship Earth“. Eine aktuelle Dokumentation des Fernsehsenders arte, die seit Ende September 2022 über die Mediathek abrufbar ist, behandelt genau diese Zusammenhänge. 

Die deutsche Version des Films kam 1974 mit dem stakkatohaften Untertitel „… Jahr 2022 … die überleben wollen“ in die Kinos und wurde am 5. September 1981 erstmals im Abendprogramm der ARD ausgestrahlt.4

Vor der Folie des fast 50 Jahre alten Blicks in eine Zukunft, die nun Gegenwart geworden ist, bietet die Ausstellung mit zwölf künstlerischen Positionen einen vielstimmigen Reflexionsraum an, von dem aus, unterstützt durch ein diskursives Programm, wiederum in unsere eigene nahe und ferne Zukunft geschaut werden kann. Die im Film verhandelten Themen werden dabei genauso angesprochen, wie die Geschichte des spezifischen Filmgenres und die möglichen Perspektiven unseres eigenen Überlebens.

Bjørn Melhus (*1966) schuf für die Ausstellung in expliziter Resonanz auf den Film „Soylent Green“ eine neue Videoarbeit, die die berühmte Sterbeszene mit dem Schauspieler Edward G. Robinson behandelt. Nina E. Schönefeld (*1970) zeigt die Serie von Videoarbeiten, „Trilogy Of Tomorrow“ (2018–19), in denen Umweltaktivist*innen und Hacker*innen für politischen Wandel, Meinungsfreiheit und den Erhalt der Natur in einer nahen Zukunft kämpfen. Auf komplexe, selbstreflexive Weise befragt die dänische Künstlerin Mette Riise (*1992) mit ihrem Video „The Less Unsustainable Talk Show“ die persönliche Aktualität des Club of Rome-Berichts. Die eigens für die Ausstellung geschaffene raumfüllende Skulptur von Sabine Groß (*1961) setzt eine Zeitschleife zwischen Zukunft, Gegenwart und Vergangenheit in Gang, die von unserer Einbildungskraft erzeugt wird. Katja Novitskova (*1984), die sich in den letzten Jahren verstärkt mit dem Problem der Biodiversität auseinandergesetzt hat, behandelt in der ausgestellten Cut-Out-Skulptur das Auswilderungsprogramm des vormals nur noch in Gefangenschaft existierenden kalifornischen Kondors. Louisa Clement (*1987) nimmt in ihrer neuen Serie sogenannter „Stellvertreterinnen“ eine transhumane Perspektive auf den eigenen Körper ein und verweist damit auf den ungesicherten Fortbestand der Menschheit in ihrer jetzigen Form. Markus Wirthmann (*1963) pflanzt ein reales Ökosystem in die Ausstellung ein, das auf einem geschlossenen Nahrungskreislauf zwischen Fischen und Pflanzen beruht und auf das gescheiterte Biosphäre-Experiment in der Wüste von Arizona verweist. Neben neuen Werken des Ko-Kurators Philip Grözinger (*1972) und des in Berlin lebenden ukrainischen Künstlers Maxim Brandt (*1986) zeigt die Ausstellung Gemälde Bettina von Arnims (*1940) aus den 1970er Jahren, die das Thema der Agrartechnologie in eine menschenfeindliche Zukunft projizieren. Ebenso historisch ist das Gedicht „Overpopulation and Art“, das John Cage (1912–1992), kurz vor seinem Tod im Kontext der Stanford Universität vortrug, sowie Fotografien aus der „Lebensmittel“- Serie von Michael Schmidt (1945–2014), die von 2006 bis 2010 während mehrerer Reisen entstanden sind und in denen die Bedingungen industrieller Nahrungsproduktion auf eindringliche Weise visualisiert werden.


 1 Mit Charlton Heston in der Hauptrolle und unter der Regie von Richard Fleischer. Das Drehbuch von Stanley R. Greenberg geht zurück auf die die 1966 erschienene Novelle „Make Room! Make Room!“ von Harry Harrison, ist aber thematisch anders ausgelegt. Großen Einfluss auf das Setting und die Rezeption des Films hatte die populärwissenschaftliche Abhandlung „The Population Bomb“ (1968) von Paul R. und Anne Ehrlich, in der die existentielle Bedrohung unseres Planeten durch Überbevölkerung in grellen Szenarien heraufbeschworen wird.

2 Erste Nachweise für diese Kausalität erbrachte 1977 ein Wissenschaftler des EXXON-Konzerns. Allgemein anerkannt ist der sogenannte „Treibhauseffekt“ auf wissenschaftlicher Ebene seit Anfang der 1990er Jahre.

3 Der Name des Unternehmens ist ein Kofferwort aus „soy“ (Soja) und „lentil“ (Linse). Mit Bezug auf den Film hat der Softwaredesigner Rob Rhinehart Anfang 2014 ein gleichnamiges Nahrungspulver auf den Markt gebracht, das bis heute vertrieben wird. 

4 Im Jahr 1980 wurde in Berlin die Band „Soilent Grün“ gegründet, der Farin Urlaub und Bela B angehörten und aus der dann 1982 „Die Ärzte“ hervorgingen.