Die Ausstellung Truth Has, In Reality, Never Been Ours erzählt von politischen Verstrickungen und künstlerischen Strategien in Zeiten totalitärer Systeme, die bis heute nachwirken. Im Mittelpunkt stehen dabei Werke der Avantgarde-Filmemacherin Maya Deren und des Konzeptkünstlers Stano Filko. Als große, begehbare Installation bringt das Kunstmuseum Bochum multidisziplinäre Werke der beiden Künstler*innen in einen spannungsvollen Dialog.
Ergänzt wird die Ausstellung durch neue und bestehende Arbeiten der zeitgenössischen Künstler Ibon Aranberri, Martin Vongrej sowie Videoaufnahmen des Dokumentarfilmers Kveto Hečko. Die Ausstellung wurde gemeinschaftlich von den Kurator*innen Lucia Gregorová Stach (Slovak National Gallery, Bratislava), Roger M. Buergel (documenta 12) und Julia Lerch Zajączkowska (Kunstmuseum Bochum) entwickelt.
Maya Deren und Stano Filko schufen in ihren jeweiligen Arbeiten eigene Mythologien und Kosmologien, die als eine Form von Widerstand zu lesen sind. Als Reaktion auf das totalitäre Staatsregime in der ehemaligen Tschechoslowakei entwickelte Stano Filko ein umfassendes Ordnungssystem, das auf Farben und Zahlen basiert. Maya Deren schuf neben Fotografie und Dichtung bis heute einflussreiche Filme. In den 1940er- und 1950er-Jahren reiste sie wiederholte Male nach Haiti, um Vodoun-Zeremonien zu filmen. Ursprünglich als dokumentarische Studie gedacht, wurde Deren selbst Teil der Gemeinschaft. Entstanden sind rund 6,5 Stunden Filmmaterial, das sie bis zu ihrem frühen Tod 1961 nicht mehr in die Hand genommen hat. Die Ausstellung präsentiert und kontextualisiert eine Auswahl dieses Filmmaterials−ihrem so genannten Haitian Footage.
Wo Maya Deren sich mit ihrer Kamera durch Rituale bewegte, bewegte sich Stano Filko in seinen multidisziplinären Arbeiten durch Dimensionen. Beide suchten die Wahrheit hinter alltäglichen Erscheinungen −und beide fanden sie in eigenen Systemen, die die Grenzen der westlichen Rationalität sprengen. Maya Derens eindringlichen spirituellen Erfahrungen in Haiti Mitte des 20. Jahrhunderts laufen parallel zu Stano Filkos kosmologischen und metaphysischen Bestrebungen. Beide Künstler*innen hinterfragen die Vorstellung von Zeit als linear und Rationalität an sich und knüpfen damit an zeitgenössische, dekoloniale Diskurse an −ein Ansatz, der den universellen Anspruch auf Deutungshoheit der westlichen Moderne in Frage stellt.
Mit Truth Has, in Reality, Never Been Ours knüpft das Kunstmuseum Bochum an seine einzigartige Sammlung an, rückt das oft übersehene Erbe der osteuropäischen Neo-Avantgarde in den Fokus und stärkt zugleich die Verbindungen zu Künstler*innen und Institutionen dieser Region.
In Anbetracht der jüngsten Besorgnis erregenden politischen Entwicklungen in der Slowakei, die sich auf kulturelle Institutionen, insbesondere die Slowakische Nationalgalerie in Bratislava, ausgewirkt haben, wurden Struktur und Inhalt der Ausstellung angepasst, um diese kritisch zu reflektieren. Seit vergangenem Jahr wurden in Folge des politischen Rechtsrucks in slowakischen Kulturinstitutionen Kolleg*innen entlassen und durch neues Personal ersetzt. Truth Has, In Reality, Never Been Ours unterstreicht sowohl die Widerstandsfähigkeit als auch die Anpassungsfähigkeit künstlerischer Praxis und der institutionellen Zusammenarbeit inmitten einer schwierigen globalen politischen Landschaft.
Der Titel der Ausstellung Truth Has, In Reality, Never Been Ours (Die Wahrheit war in Wirklichkeit nie unsere) ist einem Essay der slowenischen Kuratorin und Autorin Zdenka Badovinac entlehnt: Self-Historicization: Artist Archives in Eastern Europe (2023). Darin beschreibt sie, wie Künstlerarchive eine eigene Realität sichtbar machen−im Bewusstsein darüber, wie sehr Kriege, repressive politische Systeme und mediale Verzerrungen das kulturelle Gedächtnis geprägt und beeinflusst haben.
MAYA DEREN (*1917 in Kyjiw, †1961 New York) war Filmemacherin, Tänzerin und Fotografin und gilt bis heute als Pionierin der Avantgardefilmkunst des 20. Jahrhunderts und des experimentellen Kinos in den USA. Ihre poetischen, surrealen Filmwelten loteten die Grenzen von Realität und Traum aus und erkunden Themen wie Identität, Zeit und Raum −oft jenseits linearer Erzählstrukturen. Neben ihrem filmischen Schaffen engagierte sie sich für die Anerkennung des unabhängigen Kinos.
STANO FILKO (*1937 in Velka Hradna; †2015 in Bratislava) gilt als einer der wichtigsten Vertreter*innen der Konzeptkunst und der (nicht nur ost-)europäischen Kunst des 20. Jahrhunderts. Seine Werke beeindrucken durch ihre visionäre Kraft und ihren Bezug zu Politik und Gesellschaft. Seine Arbeiten umfassen Environments, Installationen, pneumatische Skulpturen ebenso wie Entwürfe architektonischer Utopien, Happenings und Aktionen im öffentlichen Raum.
IBON ARANBERRI (*1969 in Itziar, Baskenland) gehört zu den wichtigsten Stimmen der zeitgenössischen Konzeptkunst in Spanien. Seine Arbeiten setzen sich kritisch mit politischen, historischen und landschaftlichen Transformationen auseinander. Oft nutzt er gefundene Materialien, Archivdokumente oder ortsspezifische Elemente, um komplexe Zusammenhänge sichtbar zu machen. Aranberris Installationen, Texte, Filme und Fotografien reflektieren Prozesse kollektiver Erinnerung ebenso wie die Spuren ideologischer und gesellschaftlicher Umbrüche.
MARTIN VONGREJ (*1986 in Bratislava) entwickelt ein vielschichtiges Werk an der Schnittstelle von Kunst, Philosophie und Wissenschaft. Seine Arbeiten kreisen um Wahrnehmung, Sprache und Bewusstsein und suchen nach Möglichkeiten, das Unsichtbare erfahrbar zu machen. In Installationen, Zeichnungen und Texten erforscht er Strukturen des Denkens und spirituelle Konzepte, oft mit Bezug auf das Erbe der Konzeptkunst. Vongrejs Praxis wurde zum Teil durch seine Bekanntschaft mit Stano Filko geprägt, dessen metaphysische Systeme und Ablehnung der linearen Zeit einen bleibenden Eindruck auf seinen eigenen künstlerischen Ansatz hinterlassen haben.
FÖRDERUNG & UNTERSTÜTZUNG
Die Ausstellung entsteht u.a. dank der Unterstützung der Bratislava City Gallery (Galéria mesta Bratislavy), der P. M. Bohúň Gallery in Liptov (Liptovský Mikuláš) sowie der Central Slovak Gallery (Stredoslovenská Galéria, Banská Bystrica). Die Ausstellung wird gefördert vom Ministerium für Kultur und Wissenschaften des Landes NordrheinWestfalen, der Kunststiftung NRW und der Stadt Bochum.
Kortumstr. 147
44787 Bochum