Im Februar 1976 installierte Joseph Beuys (1921–1986) im Münchner Kunstforum das Environment zeige deine Wunde (1974/75). Die Erwerbung der Arbeit für das Lenbachhaus im Jahr 1979 war Gegenstand einer öffentlich geführten Diskussion über den Wert von zeitgenössischer Kunst. Der Ankauf wurde als Provokation, aber auch als ein Aufbruch des Hauses in neue Dimensionen des Sammelns begriffen. Erstmals wurde damit ein bedeutendes Kunstwerk erworben, dessen Autor keinen Lebens- oder Arbeitsschwerpunkt in München hatte. Im Januar 1980 richtete Beuys das Environment im ehemaligen Atelierflügel Franz von Lenbachs ein. Er sagte dazu: »In diesem Konzert der Gegenstände spreche nicht ich, sondern die Dinge haben ihre eigene innere Sprache. Das zu erfassen, kann man niemandem abnehmen.«

Die Arbeit zeige deine Wunde behandelt das Thema des Todes in eindringlicher Weise. Die Aufforderung des Titels führt den Betrachtenden ihren verwundbaren Punkt, die Endlichkeit ihrer Existenz, vor Augen. Im Mittelpunkt des Environments stehen paarweise angeordnete Leichenbahren, alte Inventarstücke aus der Pathologie. Über den Kopfenden sind trübe Lampen angebracht. Unter den Bahren befinden sich zwei geöffnete, mit Fett gefüllte Blechkästen, darauf je ein Thermometer und Reagenzglas mit einem skelettierten Amselschädel, davor ein mit Gaze abgedecktes Einmachglas. An der Wand lehnen zwei Schepser, Geräte aus dem Voralpenland, die ursprünglich dazu dienten, die Rinde von Bäumen zu entfernen. Zwei weiße Tafeln isolieren diese Werkzeuge von der Wand. Gegenüber stehen zwei doppelzinkige Forken, mit denen Schotter unter Gleisen verdichtet wurde. Die Tuchfetzen stammen noch vom Gebrauch bei Bahnarbeiten. Die Geräte stehen auf kleinen Schiefertafeln, auf die mit den Forken unvollendete Kreisschläge gezeichnet sind. Gerahmt hängen zwei Exemplare der Zeitung La Lotta Continua in der Versandbanderole, adressiert an Beuys. An der Stirnwand befinden sich schließlich zwei Schultafeln, auf die mit Kreide »zeige deine Wunde« geschrieben steht. Die eigentümliche Verdoppelung aller Details trägt der Dualität von Leben und Sterben, von Individuum und Gesellschaft, von Gegenwart und Vergangenheit, von Aktualität und Geschichte Rechnung.

Mit dem 2012 erworbenen Environment vor dem Aufbruch aus Lager I (1970/80) aus der Sammlung Lothar Schirmer wurde die Position von Joseph Beuys am Lenbachhaus wesentlich verstärkt. vor dem Aufbruch aus Lager I thematisiert den künstlerischen Schaffensprozess mit der Darstellung des Menschen als Handelnder, als Schaffender, als Künstler. Wiederum steht hier die Schultafel im Zentrum der Rauminstallation, diesmal nicht mit einer so endgültigen Aufforderung wie »zeige deine Wunde«, sondern mit einem vielgestaltigen Lehrbild. Darin geht es Beuys um das Aufzeigen des Prozesses von der Materie zur Gestalt oder Form. In diesem Diagramm zeigt er uns seine Vorstellung des erweiterten Kunstbegriffs. Eine Linie entwickelt sich aus einem Knäuel über eine Schleife zum Prisma, dazu nennt er die drei Grundelemente seiner plastischen Theorie: »unbestimmt«, »Bewegung« und »Form/bestimmt«. Darunter stehen die Begriffe »Wille«, »Seele/Gefühl« und »Denken«. Auf dem Tisch antworten die Materialien: Die Fettmasse auf einem Modellierteller, die ungeordnete Materie, von der ein Tetraeder aus Fett als bestimmte plastische Form abgesetzt ist. Dazwischen ein Messer, das mit seiner Spitze wie eine Kompassnadel den Weg vom Ungeformten zum Geformten weist. Mit den beiden Environments von Joseph Beuys, die im Lenbachhaus in angrenzenden Räumen installiert sind, setzt das Museum einen neuen Sammlungsschwerpunkt.

Verstärkt wird dieser durch die Schenkung Lothar Schirmers, der seine höchst bedeutende Sammlung an Plastiken von Joseph Beuys dem Lenbachhaus zur Verfügung stellt. Durch dieses 15 Werke umfassende Konvolut aus den Jahren 1949 bis 1972 können alle Etappen von Beuys‘ plastischbildhauerischem Schaffen exemplarisch gezeigt werden. Neben Ofen und Badewanne, Musikbox und Hasengrab, vertreten Lavendelfilter, Fisch und Mäusestall die bildhauerischen Gestaltungsmöglichkeiten, die Beuys in der Zeit von 1948 bis 1968 entfaltete. Ab 1970 wandte er sich dann ausgedehnten, großformatigen Rauminstallationen zu.

»Es grenzt an ein Wunder, dass das Lenbachhaus mit der Wiedereröffnung eine so herausragende Sammlung an plastisch bildhauerischen Arbeiten von Joseph Beuys zeigen kann. Dies ist in besonderer Weise dem großzügigen Entgegenkommen des Beuys-Sammlers Lothar Schirmer zu verdanken.«

Helmut Friedel 2013