Marcin Dudek (*1979, Krakau, PL) verwebt autobiografische Erinnerungen an seine Jugend als Teil jener polnischen Generation, die nach der Auflösung des Ostblocks heranwuchs, mit einer kritischen Betrachtung der gesellschaftlichen Abhängigkeit von Spektakel, Macht und Aggression. Sein Werk umfasst Installationen, Performances, Skulptur und Malerei. Dabei verwendet Dudek gefundene und gerettete Materialien, die er in einem Anti-Readymade-Ansatz zerschneidet und zusammenschweißt. Für seine erste Einzelausstellung im deutschsprachigen Raum hat der Künstler neue großformatige Installationen konzipiert, die er neben bestehenden und überarbeiteten Werken präsentiert. Im Mittelpunkt seiner Ausstellung im IKOB sind Räume, in denen sich tiefgreifende Transformationen des Körpers, des Geistes und der Gesellschaft vollziehen. Hier sind Überleben und Gemeinschaft untrennbar miteinander verbunden.

Im Dialog mit der Architektur des IKOB lädt „Akumulatory“ die Besucher:innen auf eine Reise zu verschiedenen Szenen und Schauplätzen aus der Vergangenheit des Künstlers ein. Die Ausstellung setzt damit Dudeks Serie von Memory Boxes [Erinnerungskisten] fort: maßstabsgetreue Nachbildungen von oftmals am Rande der Gesellschaft angesiedelten Räumen, die von einer bestimmten Identität oder Erfahrung erzählen. Die Erinnerungskisten kombinieren Originalelemente eines Raums mit Assemblagen und Bildern, die die ihm zugrundeliegenden Narrative vermitteln. Für jedes dieser Werke baut Dudek ein durchlässiges und irrationales architektonisches Geru?st, das die Wirklichkeit von innen nach außen stülpt. Der Ausstellungstitel, „Akumulatory“ (Batterien auf Polnisch), bezieht sich auf diese Verschmelzung von Erinnerung und Material sowie auf die Übertragung einer energetischen Ladung vom Ku?nstler auf sein Publikum.

Zu Beginn der Ausstellung treffen die Besucher:innen auf Zaklad (wörtl.: Einrichtung, Unternehmen, aber auch Wette, Wagnis; 2023), eine neu geschaffene Installation, die einen Frisiersalon in einem Krakauer Kellergeschoss rekonstruiert. Seit dem Zerfall der Volksrepublik Polen 1989 und der daraus folgenden Ungewissheit über Eigentumsverhältnisse und Rechtsansprüche betreibt die Schwester des Künstlers einen halb klandestinen Frisiersalon im dafür besetzten Keller des Mietshauses, das die Familie Dudek bewohnt. Nach dem vollständigen Rückbau der Räumlichkeiten, inklusive Einrichtung, Beschläge und Geräte, werden sie von Marcin Dudek maßstabsgetreu im IKOB wiederaufgebaut. Menschenhaare, in den vergangenen Jahren im Salon gesammelt, strukturieren als großformatige Paneele den Raum. Zaklad transloziert die tausenden Haarschnitte, Geschichten und Arbeitsvorgänge, die dieser Ort erlebt hat sowie seine Bedeutung als Ort des Austauschs und der Erneuerung. Zaklad führt Dudeks Faszination für subkulturelle Rituale und Do-It-Yourself-Unternehmertum fort und misst dabei (weiblicher) Arbeit und Gemeinschaft besonderen Wert bei.

Das Thema der körperlichen Transformation erfährt in einer von unterirdischen Fitnessstudios inspirierten Installation eine neue Ausprägung. Lebensgroße Bilder von Trainingsstätten, die Jugendliche in den Kellern ihrer städtischen Wohnsiedlungen zum Teil aus Schrott oder gar ausrangierten Rippenheizkörpern einrichten, bilden den Hintergrund für eine Reihe von Skulpturen, darunter Swiatofit (2019) – eine Anspielung auf den vorchristlichen slawischen Gott Swiatowid – Flex Flat Top (2013) und eine neue „Boxsack“-Arbeit. Hier werden Heimwerkertechniken und die Eigenschaften der Ausgangsmaterialien auf ein Höchstmaß strapaziert und die Trainingsgeräte zu Altären für den Gott der Körperkultur. Die Fitnessstudios wirken fast wie Folterkammern, sind aber für ihre Nutzer ein heiliger Zufluchtsort. Die greifbare Gewalt des Raums steht im Kontrast zur Prekarität der Materialien, in denen körperliche Kraft und Verwandlung mit Verletzlichkeit koexistieren.

Head in the Sand (Kopf im Sand, 2015) ist eine der fru?hesten „Erinnerungsboxen“ des Künstlers: eine Rekonstruktion seines Kinderzimmers. Die prägendste Erfahrung in Dudeks Jugend war seine tiefe Verstrickung in die Szene der Fußball-Hooligans – eine gewalttätige und gefährliche Vergangenheit, mit der er sich in seiner Praxis immer wieder auseinandersetzt. In diesem Zimmer lebte der junge Dudek Aggression und Zerstörung aus, aber es war auch der Ort, an dem seine Besessenheit für die Kunst begann. Er fing hier damit an, berühmte Gemälde zu imitieren, die er in einer Kunstzeitschrift gesehen hatte. Pappmaché-Platten, in die Seiten aus diesen Magazinen eingearbeitet sind, strukturieren den Raum, und die Gemälde aus seiner Jugendzeit sind in einem Akt des doppelten Ikonoklasmus zerrissen und rekonfiguriert. Die blauen Spuren an der Wand erinnern an die in Fußballstadien gebräuchlichen Bengalischen Feuer sowie an die Kunst des polnischen Avantgarde-Künstlers Edward Krasinski; eine Anspielung auf Dudeks tiefgreifende Wandlung vom Hooligan zum Künstler.

Wir verlassen die räumliche Enge des Wohnbaus und betreten eine weite Landschaft. In Barycz (2023), klafft ein Loch in der Mitte des von Erde, Abfall und Schrott übersäten Ausstellungsraumes. Dudek nimmt uns mit zu einem weiteren Ort seiner Jugend: eine verlassene Brache, wo die Bewohner:innen seines Häuserblocks Alkohol und andere Drogen konsumierend herumlungern und den Schutt nach Schätzen durchsuchen. Die Installation hebt die eigensinnige Ökologie dieses Ortes hervor, in der Pflanzen aus leeren Wodkaflaschen sprießen, Insektenkolonien unter entsorgten Teppichen gedeihen und Abenteuerlust mit dem giftigen Nebel von halbleeren Klebstoffbehältern quittiert wird. Den Menschen an den Rändern der Gesellschaft gewidmet, für die die Straße einen Wohnraum darstellt, deckt Barycz den erhabenen Horror auf, der diesen Orten innewohnt.

Diese unbändige Landschaft funktioniert wie ein Gemälde, das nicht nur einen Raum beschwört, sondern eine formale Komposition schafft. Dudeks zweidimensionalen Arbeiten, bei denen er häufig bemaltes medizinisches Klebeband und andere Materialien akribisch schichtet, funktionieren auf ähnliche Weise: Meta (2022) zeigt einen gewöhnlichen Wohnungsgrundriss mit Schnitten, Brandflecken und Rissen, die auf eine dahinterliegende dunkle Geschichte hindeuten. Ein früheres Werk, Letters from Prison – Kukiel (2015), ist eine mit Klebeband gefertigte Collage, die auf den Gefängnisaufenthalt seines Bruders in Polen anspielt und die Architektur von dessen Gefängniszelle als Grundlage für ein Triptychon verwendet.

Marcin Dudek zeigt im IKOB diejenigen Orte, die ihn und seine Generation verändert haben. Er lädt die Besucher:innen ein, an der Abrechnung mit einer düsteren Vergangenheit teilzuhaben. Damit knüpft er an das universelle menschliche Bedürfnis an, Orte der Zugehörigkeit zu finden und zu schaffen – Orte, an denen wir zu uns selbst oder zu einer völlig anderen Person werden dürfen. Seine bemerkenswerte künstlerische Praxis macht uns bewusst, wie vermeintlich kontrollierbare Konstrukte – der menschliche Körper, Institutionen, Nationalstaaten – versagen können. Dudek zieht der Massengesellschaft die Maske ab; zum Vorschein kommen nicht etwa die sauberen, abstrakten Züge der Konsumgesellschaft, sondern Abfall, Plastik und Giftstoffe.

Diese Ausstellung wird unterstützt vom Polish Institute Brussels, Centre Wallonie-Bruxelles, und Harlan Levey Projects.

Marcin Dudek (*1979, Krakau, PL) studierte an der Kunstuniversität Mozarteum, Salzburg, AT und am Central Saint Martins, London, UK wo er 2005 bzw. 2007 seinen Abschluss machte. Zu seinen jüngsten Einzelausstellungen gehören „NEOPLAN“, Edel Assanti, London, UK (2023); „The Group“, Kunsthal Extra City, Antwerpen, BE (2023); „Ultraskraina“, Centre Wallonie-Bruxelles, Paris, FR (2021); „Slash & Burn II“, Harlan Levey Projects, Brüssel, BE (2021); „The Crowd Man“, MWW Wroclaw Contemporary Museum, Wroclaw, PL (2019) und „The Lure of the Arena“, MNAC National Museum of Contemporary Art, Bukarest, RO (2019). Gruppenausstellungen umfassen unter anderem „Art of the Terraces“, Walker Art Gallery, Liverpool, UK (2022); „Collapsing“, TEA Tenerife Espacio de las Artes, Santa Cruz de Tenerife, ES (2022); 8. Malereibiennale, Museum Deinze und Museum Roger Ravel, Deinze, BE (2022); „FUCK YOU“, Kunstenhuis Haralbeke, BE (2021); „DOPPELGANGER“, Entreprendre & KANAL-Centre Pompidou, Brüssel, BE (2021); „Psychic Wounds: On Art & Trauma“, The Warehouse, Dallas, US (2020); und „Giochi Senza Frontiere“, Palazzo Mazzarino, Manifesta12, Palermo, IT (2018). Dudeks Arbeiten sind in internationalen Sammlungen vertreten, darunter MWW Wrocaw Contemporary Museum, Wroclaw, PL und National Museum of Contemporary Art, Bukarest, RO. Dudek lebt und arbeitet in Brüssel.


Öffnungszeiten:
Dienstag - Sonntag: 13:00 - 18:00 Uhr
Montag: geschlossen

Weitere Informationen direkt unter: www.ikob.be

Marcin Dudek. Image credit Damon De Backer
19.09. - 26.11.2023

Marcin Dudek: Akumulatory

IKOB – Museum für Zeitgenössische Kunst

Rotenberg 12b
4700 Eupen