Betritt man die Ausstellung to the stranger within von Yann Annicchiarico im Künstlerhaus Bethanien, wird man zunächst mit einem Eindruck der Leere konfrontiert. Dieser wird durch eine diffuse Lichtatmosphäre unterstrichen, die einem Dämmerzustand gleicht. Nur wenig Licht dringt durch die Lücken in den schwarzen Molton-Vorhängen. Beim genaueren Hinsehen erst bemerkt man, dass es sich bei den Aussparungen um die Silhouetten von Insekten – genauer Motten – handelt, die der Künstler aus einem Insektenbestimmungsbuch des vorigen Jahrhunderts (1909) entnommen hat.
Zahlreich sind hier die kunsthistorischen Anknüpfungspunkte von den Schattenrissen des 18. Jahrhunderts über naturwissenschaftliche Darstellungen von Insekten in Büchern bis hin zum Rorschach-Test im frühen 20. Jahrhundert.
In der Videoarbeit der Ausstellung tauchen auf einem dunklen Hintergrund helle Erscheinungen auf. Man muss schon genauer hinschauen, um das kriechende Getier zu identifizieren: Schnecken, Motten, Mücken und Fliegen. Annicchiarico übernachtete an unterschiedlichen Orten in der Peripherie Berlins und stellte einen Dokumenten-Scanner auf. Angelockt durch das grelle Licht führten die Insekten ihren nächtlichen Tanz auf und hinterließen ihren durch die Durchlaufbewegung des Scanners verzerrten Abdruck als digitales Bild während der Künstler schlief. Die sich frei auf der Glasplatte des Scanners tummelnden Lebewesen bilden einen starken Kontrast zu den symmetrisch in Reihe gesetzten Motten in den Insektenbestimmungsbüchern der Moderne. Die geometrische Anordnung von Lebewesen ist uns aus Naturkundebüchern, Setzkästen oder Präparaten bekannt und ist ein Indikator für die westliche Vorstellung, die Natur sei dem Menschen und seinem Intellekt untergeordnet. Entdeckung, Benennung, Kategorisierung und Konservierung sind die Werkzeuge, mit denen wir uns die Natur zu untertan machen versuchen.
In Annicchiaricos Arbeit geht es allerdings weniger um tierrechliche Anliegen, als vielmehr um ein Weltbild, das nicht den Menschen, sondern eine dunkle Leere im Zentrum hat. Diese Leere ist für Annicchiarico ein Raum, den er für das Unbekannte lässt (z.Bsp. das der radikalen Alterität eines fliegenden und nachtaktiven Insektes) – eine Leere die eigentlich immer gefüllt von etwas ist, auch wenn wir dies nicht erfahren können.
To the stranger within setzt sich in erster Instanz also mit unserer Wahrnehmung auseinander. Laut Künstler ist dieser stranger within (Fremde im Inneren, in unserem kollektiven und individuellem Inneren) die unerforschte Stelle, die unsere Wahrnehmung sowohl auf biologischer als auch auf kultureller Ebene bedingt. Annicchiaricos Arbeit setzt sich mit der Akkommodation und Mechanik des Auges auseinander und konfrontiert in zweiter Linie unsere menschliche Natur mit der Innenwelt der Nachtfalter, die für uns unzugänglich ist. Hier führt der Akt des Sehens zu einem Bewusstsein für die Grenzen unseres eigenen Verständnisses und die Möglichkeit, diese Grenzen zu überschreiten.

© Yann Annicchiarico
22.09. - 15.10.2023

Yann Annicchiarico: to the stranger within

Künstlerhaus Bethanien

Kottbusser Straße 10
10999 Berlin