Der Kunstverein Hannover zeigt die erste Retrospektive der ukrainischen Künstlerin Zhanna Kadyrova.

Zhanna Kadyrova (geb. 1981 in Brovary, Ukraine) arbeitet seit über zwanzig Jahren an aktuellen Fragestellungen einer post-sozialistischen Perspektive. Ihre ohnehin relevante Praxis hat seit dem Angriff auf die Ukraine eine dringliche Wendung bekommen. Die Künstlerin ist, nachdem sie zunächst mit Familie aus Kyjiw geflohen war und in Nachbarländern, auch in Deutschland, Obdach fand, wieder an ihre Lebens- und Arbeitsstätte zurückgekehrt. Die Notwendigkeit, vor Ort zu arbeiten, Teilnehmerin, Helferin und Zeugin zu sein, treibt sie an.

Sie arbeitet mit künstlerischen Mitteln resilient. Ihre künstlerische Arbeit ist widerständig, und sie ist die einer Botschafterin und Botin: im Gepäck hat sie bei ihren Reisen als Pendlerin unter extremen Bedingungen zwischen der Ukraine und Ausstellungsorten weltweit nicht nur Materialien und Kunstwerke, sondern auch Erfahrungen, Traumata und Auswirkungen des Lebens und Arbeitens unter Belagerung. Angesichts der Omnipräsenz des Krieges in ihrem Heimatland findet die Künstlerin zu einer Praxis des Widerstands durch Struktur und Routine — Kunstmachen als täglich Brot. 

Wie viele ihrer Kolleg:innen und Freund:innen arbeitet Kadyrova weiter, rastlos, trotz Erschöpfung und Todesgefahr, der sie sich regelmäßig aussetzt, voller Tatendrang und Entschlossenheit.

Die Ausstellung Daily Bread — Eine erste Retrospektive von Zhanna Kadyrova bringt Werke aus zwei Dekaden künstlerischer Praxis zusammen und präsentiert für die Ausstellung in Hannover neu entstandene Arbeiten. Die Ausstellung soll zeigen, welche neue künstlerische Produktion die radikal veränderte Situation erfordert und wie eine radikal neue künstlerische Produktion wiederum die Situation kontextualisiert, in der Kunst zentrales Mittel der Gegenwehr wird.

Zhanna Kadyrova hat den eigentlichen Kriegseintritt 2014 bereits in ihren Arbeiten thematisiert. Mit dem Überfall russischer Truppen auf die Ukraine im Februar 2022 hat sich auch ein neues künstlerisches Kapitel eröffnet, das Themen der nationalen Identität, der sowjetischen Vergangenheit und des physischen Bodens erörtert, die Vehemenz und Brutalität der Kriegsrealität verarbeitet und aussagekräftige Kunstwerke zeigt, die retrospektiv, mit Blick von heute, noch bedeutender werden.

Daily Bread zeigt ihre vielleicht bekannteste Arbeit aus einer Serie von Trümmermosaiken, einen Marktstand (Market, 2017—2019) und die Transformation dieses Ansatzes zu täglich Brot aus Findlingen (Palianytsia, 2022—, in Kollaboration mit Denys Ruban) — ein Charity-Projekt, das ständig weitergeführt wird und über den Verkauf von „Brotkunstwerken“ finanzielle Unterstützung für Kadyrovas Community sammelt. Sämtliche Einnahmen werden an Organisationen und Freund:innen in Kyjiw weitergegeben.

Bekanntere Serien, die mit der (wortwörtlich gebrochenen) Materialität unserer Umwelt zu tun haben, treffen auf neue Positionen, die direkt aus der schockierenden Unmittelbarkeit des Krieges in der Ukraine stammen. Die Künstlerin bringt dabei durchschossenes oder anderweitig gewaltsam zerrissenes Material in neue skulpturale Formen, die uns von dem erzählen, was in ihrem Heimatland passiert. Schon vor 2014 begann sie mit „Herauslösungen“ von bedeutungstragenden Materialien — oft ein Stück Asphalt aus einer bestimmten Region (Data Extraction, 2013—). Teilweise sind diese Regionen nun gar nicht mehr Teil ihres Heimatlandes.

Zhanna Kadyrova lebt und arbeitet weiterhin in der Nähe von Kyjiw. Für sie bedeutet Leben und Arbeiten im Krieg ukrainische Realität, und sie nutzt die Mittel ihrer Praxis, um regelmäßig in Ausstellungen weltweit das, was in der Ukraine geschieht, zu reflektieren und zu dokumentieren. Es ist ein Arbeiten unter Druck, in Lebensgefahr, und gleichzeitig Struktur und Routine — täglich Brot. Kadyrova arbeitet, wie viele ihrer Kolleg:innen und Freund:innen getrieben und voller Tatendrang, vollkommen erschöpft, aber rastlos.

Die Ausstellung wird in Zusammenarbeit mit dem PinchukArtCentre in Kyjiw organisiert und im Sommer in einer anderen Form in den Räumen der Institution in Kyjiw zu sehen sein. Nicht erst seit Beginn des Krieges ist das PinchukArtCentre die führende Institution zur Unterstützung, Förderung und Repräsentation ukrainischer zeitgenössischer Kunst und Künstler sowohl innerhalb als auch außerhalb der Ukraine.

In Zusammenarbeit mit der Stiftung Leben & Umwelt | Heinrich-Böll-Stiftung Niedersachsen, dem Netzwerk Erinnerung und Zukunft in der Region Hannover und dem ZeitZentrum Zivilcourage der Landeshauptstadt Hannover finden im Februar und März zwei Diskursveranstaltungen der Reihe „Die Ukraine und der russische Angriffskrieg“ statt, die u. a. die gezeigten Werke kontextualisieren, Hintergrundinformationen zur Situation in der Ukraine vermitteln und eine breitere Diskussion über die Rolle von Kunst und Zivilgesellschaft unter den Bedingungen von Aggression und Repression ermöglichen.

Kadyrova möchte auch die Stimmen ihrer Mitstreiter:innen, Aktivist:innen, Künstler:innen und Community-Mitglieder zu Wort kommen lassen. Dies wird ermöglicht durch Gespräche mit den Künstlern und Filmemachern Roman Khimei und Yarema Malashchuk, die derzeit in der Nähe von Mykolajiw arbeiten, und der Künstlerin und Autorin Yevgenia Belorusets, die gerade im Deutschen Bundestag in Berlin eine Ausstellung zeigt.