Vor wenigen Wochen ist das Kunstmuseum Stuttgart als »Museum des Jahres 2021« geehrt worden. In der Jury-Begründung wurde die 2005 gestartete Ausstellungsreihe »Frischzelle« als »ein gelungenes und wichtiges Experimentierfeld für junge Künstlerinnen und Künstler aus Baden-Württemberg« hervorgehoben. In der 29. Ausgabe der Reihe zeigt die Stuttgarter Foto-künstlerin Hannah J. Kohler ihre Arbeiten, in denen sie sich in der Rolle verschiedener Figuren selbstinszeniert. 

Hannah J. Kohler (*1997 in Geislingen an der Steige) beschäftigt sich in ihren Arbeiten mit Selbst- und Fremdwahrnehmung, Erscheinungsformen von Weiblichkeit und gesellschaftlichen Rollenbildern. In ihren Fotografien inszeniert sich die Künstlerin oft selbst: Indem sie in ver-schiedene Rollen schlüpft oder ungewöhnliche Posen einnimmt, wird ihr Körper zur Projekti-onsfläche gesellschaftlicher Themen und Diskurse, führt diese buchstäblich vor Augen und macht sie greifbar. 

Kohler schöpft hierbei die Vielfalt des Mediums Fotografie aus: sie verwendet Polaroids, ebenso analoge wie digitale Fotografie und eine besonders hochauflösende Mittelformatka-mera von PhaseOne. Auch den Möglichkeiten von verschiedenen Präsentationsformen wid-met die Künstlerin große Aufmerksamkeit. Sie ist offen für die Realisierung des fotografischen Werks in unterschiedlichen Materialien – neben klassischen Kunstdrucken auf Papier kommen bei ihr Folie und Aluminium als Trägermaterial zum Einsatz. Die Künstlerin hat sich zur Regel gemacht, die Präsentation ihrer Arbeiten nicht zu ›sauber‹ und ›perfekt‹ wirken zu lassen; so greift sie etwa für die Hängung von Prints statt auf Rahmungen auf sichtbare Nägel zurück. 

Die Arbeit Zum Ursprung (2022), die Kohler eigens für die neun Meter hohe Wand im unteren Ausstellungsbereich entwickelt hat, zeigt die Künstlerin als Gaia, die personifizierte Erde in der griechischen Mythologie, vor schwarzem Hintergrund. Sie hat eine gebärende Haltung eingenommen, zwischen ihren Beinen befindet sich ein Computerbildschirm, auf den ein Video projiziert wird. In seiner Theogenie entfaltet der Dichter Hesiod einen Schöpfungsmythos, an dessen Anfang zunächst Chaos herrscht. Aus diesem entsteht als eine der ersten Gottheiten Gaia, die den Himmel, die Berge und das Meer hervorbringt. Sie steht für Fruchtbarkeit, zu-gleich repräsentiert Gaia als Urmutter Stärke, Rationalität und Tatkraft – Eigenschaften, die selbst heute noch vermeintlich ›männlich‹ konnotiert sind. 

Mit ihrer Darstellung der mythologischen Göttin schlägt Kohler eine Brücke zum feministi-schen Diskurs, in dem verschiedentlich die Frage verhandelt wird, was ›Geschlecht‹ ist und warum geschlechtsspezifische Stereotype in unserem Handeln und Denken zentrale Bezugs-größen sind. Das weit diskutierte Theorem der Gender-Studies, nach der Geschlechter sozial konstruiert seien, also in der Interaktion mit anderen entstehen und somit keinen naturgege-benen Ursprung haben, greift Kohler metaphorisch in der Videoarbeit von Zum Ursprung auf. Die Sequenz spielt ebenfalls auf die griechische Mythologie an, auf die Geburt der Aphrodite aus dem Meer: Die Künstlerin steigt aus dem Wasser und läuft auf die Betrachter:innen zu. In der nächsten Einstellung kommt sie wieder aus dem Wasser, dieses Mal in Begleitung eines Mannes, der kurz darauf ins Nass zurückkehrt. Mit dieser Rückkehr wird eine Auflösung der Grenzen des binären Geschlechtsmodells ›weiblich‹ und ›männlich‹ angedeutet, sie werden fließend. 

In ihrer siebenteiligen Arbeit sicher/unsicher (2019) dokumentiert die Künstlerin eine Perfor-mance auf einer Stufenleiter, die sie als eine »krude Form des Poledance« bezeichnet. Die Verbindung von Anmut und Eleganz in den Posen, die Kohler auf der Leiter ausführt, mag nicht so recht mit dem Arbeitsgerät zusammenpassen, das üblicherweise im Kontext ›harter‹ Baustellenarbeit zu verorten ist – eine ›weiblich‹ attribuierte Sportart trifft auf einen ›männ-lich‹ konnotierten Gegenstand. 

Der Halo-Effekt beschreibt ein psychologisches Phänomen, nach dem der Gesamteindruck eines Gegenübers schnell von einem einzelnen positiven wie negativen Persönlichkeitsmerk-mal beeinflusst wird – wie ein Heiligenschein (›halo‹, engl. Heiligenschein) überstrahlt es alle anderen Eigenschaften und verhindert eine objektive Beurteilung. Dieser verzerrten, vorur-teilbehafteten Wahrnehmung von Menschen geht Kohler in ihrer seriellen Arbeit Der Halo-Ef-fekt und die Wîbheit – Anekdötchen (2021–2022) nach. Sie konstruiert ausgehend von dem, was Menschen in Radio-Interviews von sich preisgeben, eine zugehörige visuelle Repräsenta-tion, die sie fotografisch festhält: eine Pilotin, ein Bauarbeiter, eine Träumerin, eine Hausfrau. Das Skript des jeweiligen Radiobeitrags wird der Fotografie zur Seite gestellt, sodass man die Zuschreibungen und Vorstellungen der Künstlerin mit seinen eigenen abgleichen kann. 

Für ihre mehrteilige Arbeit That’s pure prejudice (2018–2022) sucht Kohler das spontane Ge-spräch mit Unbekannten im öffentlichen Raum. Sie fragt sie nach ihren Erfahrungen mit Vor-urteilen im Alltag. Zur Sprache kommen oft schmerzliche, immer persönliche und eindrückli-che Schilderungen. Von ihren flüchtigen Bekanntschaften fertigt sie Polaroid-Porträts an, die sie zusammen mit Zitaten aus den Gesprächen präsentiert. Die prägnanten Texte handeln von Vorurteilen aufgrund von Haarfarbe bis hin zu kurzen Berichten über politische Verfol-gung. Die beiden Porträtserien Der Halo-Effekt und That’s pure prejudice sind als Einladung zu verstehen, sich eigener Vorurteile bewusst zu werden: Wie nehmen wir andere Personen wahr? Wie entstehen subjektive Urteile? Oder: Wie sehr haben soziale Strukturen und Codes Einfluss auf unsere Urteilsbildung?