Spätestens mit der Vertreibung der emanzipativen Moderne aus Europa nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs und der Etablierung des Internationalen Stils in der Architektur hat sich das „Projekt der Moderne“ in formal ästhetische und ideologisch konkurrierende gesellschaftlich-staatliche Prozesse aufgespalten. In Bauten für die Bildung lassen sich diese Stränge wieder in Beziehung zueinander setzen.
Die Ausstellung Dunkelkammer Bildungsmoderne und begleitende Veranstaltungen stellen die Frage, ob und wie heute angesichts der Komplizenschaft von Wissen und Bildung mit planetarischen Ausbeutungsprozessen noch Räume für ein „kritisches Erbe“ der Moderne geöffnet werden können, in denen andere Formen von Wissen entwickelt und zukunftstaugliche Verhältnisse und Umgangsweisen mit Bildung ermoöglicht werden.
Seit Ende der 1990er Jahre besucht, fotografiert und erforscht das Künstler_innen-Duo Sabine Bitter und Helmut Weber in so unterschiedlichen Ländern wie Brasilien, Kanada, Kroatien, Nigeria, Serbien oder den USA Gebäude und Strukturen der Nachkriegs- Bildungsmoderne sowie die Hintergründe und Realitäten ihres Gebrauchs.
Exemplarische Arbeiten aus dem daraus entstandenen Langzeitprojekt Bildungsmoderne/ Educational Modernism untersuchen die Rolle und Bedeutung von Bildern von Bildungsarchitekturen in Modernisierungserzählungen aus unterschiedlichen Geografien und Ideologien. Sie erforschen, wie Kolonialismus, Rassismus und Klassismus in ihnen sichtbar werden und wie sich Kritik an den Versprechen und Verbrechen der Moderne bildpolitisch festmachen lässt.
Über die Arbeiten
Während der von Ludwig Mies van der Rohe entworfene Campus des Illinois Institute for Technology (IIT) in Chicago heute als Meilenstein modernistischer Architektur gilt, unterschlägt die Geschichtsschreibung, dass das hauptsächlich von Afro-Amerikaner_innen bewohnte Viertel Bronzeville in den 1940er-Jahren dem Neubau weichen musste. An die Stelle des angeblichen Slums traten, so die Erzählung, die Funktionalität, Transparenz und Rationalität der Moderne. Die solarisierten Bilder der Serie Bronzeville (2005) von Sabine Bitter und Helmut Weber legen offen, wie die modernistische „Architektur des Lichts“ Tropen von Licht und Dunkel in rassifizierenden Diskursen fortschreibt.
Der Bildessay From Our House To Bauhaus – Occupy Modernity illustriert eine Polemik Tom Wolfes gegen moderne und postmoderne Architektur mit 23 Fotografien der von der New York University errichteten Silver Towers. Anders als in Wolfes Essay wird Bedeutung hier nicht durch Text produziert, sondern durch Bilder dieses umstrittenen Bauprojekts, die sowohl Wolfes Polemik als auch Kritik an ihr aufnehmen und Fragen nach dem Potential modernistischer Architektur sowie ihrer Beziehung zu Städten und der Lebensweise ihrer Bewohner_innen stellen.
In Trophäen ihrer Exzellenz verweisen fotografische Objekte auf die Komplizenschaft zwischen Architektur und sich verändernden Machtverhältnissen. Die Arbeit untersucht den Wandel der Goethe-Universität Frankfurt von einer schlossähnlichen Bürgeruniversität des deutschen Kaiserreichs über eine modernistische Massenuniversität, die die Frankfurter Schule beherbergte, hin zu einer Ansammlung neoliberaler „Exzellenzcluster“. Ausgehend von gemeinsamer Forschung mit dem Stadtsoziologen Klaus Ronneberger erscheinen architektonische Fragmente und Bedeutungszuweisungen als Trophäen, die den Weg zur Exzellenz markieren. Trophäen sind hier nicht nur Objekte, sondern auch Bilder architektonischer und urbaner Aneignungsprozesse sowie Agenten sich verändernder Interessen und Machtverhältnisse.
Die mehrteilige fotografische Arbeit Unsettler Space (2021) setzt sich mit den ikonischen Architekturen der brutalistisch-modernistischen Megastruktur der Simon Fraser University in Vancouver auseinander. Der in den 1960er Jahren vom Architekten Arthur Erickson erbaute „radikale Campus“ und seine gebaute Umgebung waren einst von experimentellen Konzepten des Lernens und Lehrens geprägt. Die von Bitter & Weber initiierte kollaborative Forschungsgruppe „Guests & Hosts – Gäste & Gastgeber“ stellt das Narrativ dieses sogenannten „radikalen Campus“ infrage. Die Arbeit nutzt dabei in wechselnden Perspektiven die Räume einer siedlerkolonialistischen Institution, um vorherrschende westliche Konzepte von Pädagogik und Wissen zu stören. Performative Eingriffe in die institutionellen Räume reklamieren diese als Orte für Indigene Arten des Wissens und Lernens.
Die Videoinstallation Public Seminar (2020) bringt anhand von Fotografien aus dem Archiv der University of Lethbridge in Alberta die Geschichte ihres 1972 vom Architekten Arthur Erickson errichteten brutalistischen Universitätsgebäudes in die Gegenwart. Die gewählten Fotodokumente erinnern daran, dass öffentliche Seminare auf den Fluren der Universität als eine Form experimenteller Pädagogik eine zentrale Rolle spielten. Im Video wiederum werden Archivmaterialien und Texte von Arthur Erickson aus den 1960er Jahren zur Rolle und Aufgabe von Bildungsarchitekturen diskutiert und von Studierenden der „Advanced Studio Class“ der dortigen Kunstfakultät in Bezug auf ihre Relevanz fuür das heutige Studierendenleben re-inszeniert.
Die aktuelle Arbeit Die Luke (Arbeitstitel, 2023) blickt hinter das Wandbild an der Fassade des Hauses des Lehrers am Berliner Alexanderplatz. Das ikonische Gebäude wurde vom Kollektiv Hermann Henselmann 1961–1964 im Internationalen Stil errichtet. Das Mosaik Wandbild Unser Leben des Künstlers Walter Womacka – mit sieben Metern Höhe und 127 Metern Länge eines der größten Europas – umwickelt das gesamte Gebäude auf Höhe des 3. und 4. Stockwerks. Als Begegnungsstätte für Pädagog_innen konzipiert, verbarg sich hinter dem Wandbild die umfangreiche pädagogische Bibliothek des Lehrervereins, die beide Weltkriege überstanden hatte. Im Zuge der Sanierung und Privatisierung des Gebäudes wurde die Bibliothek ausgelagert und es verschwanden weitere Räume wie Lesesaal, Cafe, Restaurant, Buchladen, Veranstaltungssäle und eine Kleinkunstbühne. Zum Hinschauen kommt Hinhören: Eine Hör- und Gesprächssituation mit Texten von Brigitte Reimann, Maxie Wander und Christa Wolf spürt Fehlstellen, Brüchen und Ausblendungen in Geschichtserzählungen nach. Bergen sie Potential für vertiefende Kritik an und fragiles Wissen über Geschichte, Moderne und Bildung?
Über Sabine Bitter und Helmut Weber
Die in Wien und Vancouver lebenden Künstler_innen Sabine Bitter und Helmut Weber untersuchen, wie Städte, Architekturen und urbane Territorien über Bilder verhandelt werden. Ihre fotografischen, raumbezogenen und rechercheorientierten Arbeiten thematisieren Momente und Logiken urbaner Transformationsprozesse. 2004 gruündeten sie mit Jeff Derksen das Forschungskollektiv Urban Subjects.
Kastanienboulevard
12619 Berlin