Die Gruppenausstellung ALL OUR YESTERDAYS [Alle unsere Gestern] zeichnet eine Verbindung zwischen drei in Belgien lebenden Künstlerinnen unterschiedlicher Generationen nach: LILI DUJOURIE (*1941), SOPHIE NYS (*1974) und ANGYVIR PADILLA (*1987). Die ausgestellten Werke umfassen Skulptur, Installation, Fotografie, Film, Ton und Performance und umspannen die letzten fünf Jahrzehnte (1969–2023). 

Indem sie die Bedeutungsträger des Häuslichen untergräbt und etablierten künstlerischen Kategorien trotzt, entfaltet die Ausstellung eine fragmentierte Erzählung von Zeitlichkeit, Erinnerung und Verlust. Die Werke setzen sich damit auseinander, wie sich der Körper durch Zeit und Raum bewegt und dabei seine Spuren hinterlässt. Die Künstlerinnen bedienen sich hierfür der Strategien der Konzeptkunst, deren Autorität sie jedoch durch eine tiefgreifende Auseinandersetzung mit der Stofflichkeit ihrer Materialien und durch eine Auslieferung an das Empfinden in Frage stellen. 

Der Titel der Ausstellung bezieht sich auf den eines Roman von Natalia Ginzburg aus dem Jahr 1952, dessen Handlung im Italien des Zweiten Weltkriegs angesiedelt ist und in dem sich eine junge Protagonistin allmählich aus einem komplexen Geflecht von Familienbeziehungen herauswindet. Ihr Privatleben wird dabei in die radikalen sozialen und politischen Umwälzungen eingebettet, die um sie herum passieren. Die Ausstellung reflektiert die Verflechtung des inneren und äußeren Lebens, der privaten und öffentlichen Welt der Menschen.

Sophie Nys deckt mit Präzision und einer gesunden Portion Humor die unterschwellige Bedeutung von Formen und Symbolen auf. Eine aus Plastikeimern gefertigte Wasseruhr verweist auf die Klepsydra, eine antike Form der Zeitmessung mit Hilfe von Wasser. Weitere Werke beziehen sich auf alltägliche Gegenstände, aber überschreiten die Grenze zur Suggestion: eine lederne Kniebank, überdimensionale Klopapierrollen aus Yogamatten, luftleere Hüpfbälle auf einem Metallgerüst. Für Lits de camp [Feldbetten] wanderte die Künstlerin über eine Strecke von 19 Kilometern und zog dabei eine zehn Meter lange Leinwand hinter sich her, deren Oberfläche sie durch diese Bewegung „bemalte“. In jeder dieser Situationen ist der menschliche Körper zwar physisch abwesend, aber dennoch präsent, in der Schwebe zwischen Erschöpfung und Vergnügen. 

Lili Dujourie ist eine der bedeutendsten Künstlerinnen ihrer Generation und hat die besondere Fähigkeit, mit den Betrachter:innen sowohl auf intellektueller als auch auf sinnlicher Ebene in Kontakt zu treten. Die Collagearbeit Roman (5) ist von trügerischer Einfachheit: Vier winzige Zeitschriftenschnipsel sind auf einen langen Bogen Papier geklebt, die Leere dominiert den Inhalt. Wie in ihrer berühmten Stahlplattenarbeit Côté Couleurs, Côté Douleurs [Seite der Farben, Seite des Schmerzes] spielt die Künstlerin ein Spiel mit Entblößung und Verbergung. Sie greift auf das schlichte, industrielle Vokabular des Minimalismus zurück, bricht es aber durch ihre malerische Geste. Der Stummfilm Passion de l’été pour l’hiver [Leidenschaft des Sommers für den Winter] ist eine langsame, schleichende Suche nach Ruhe – diese Spannung zwischen Bewegung und Stillstand findet ihren Widerhall in Memoires van de handen [Erinnerungen der Hände], Skulpturen, die dadurch entstehen, dass die Künstlerin ihre Hände in Ton presst.

Angyvir Padilla schafft Installationen, die sich mit den Begriffen der Heimat und der Erinnerung befassen. Ihre hier gezeigten Arbeiten basieren auf einem Archiv von Fotografien, die im Elternhaus der Künstlerin in Caracas aufgenommen wurden. Sie dokumentieren die überwältigenden Stapel von Kleidung, die ihre Mutter dort verkauft. Die Künstlerin druckte diese Fotos auf Gipskostüme und erweckte diese in einer Performance während der Ausstellungseröffnung zum Leben. In einer weiteren Arbeit hat sie die Bilder in Wachs gehüllt und sie über prekäre Metallkonstruktionen drapiert. In der Nähe spielt eine Schallplatte den Bolero-Klassiker Contigo En La Distancia [Mit dir in der Ferne] in der Aufnahme von Lucho Gatica von 1952, rückwärts; eine Erinnerung an die Unmöglichkeit, in die Vergangenheit zurückzukehren. Der Klang hallt noch durch den Raum, wenn ihr einer Installation von in Sand eingebetteten 3D-gedruckten Skulpturen begegnet: eine Zusammenarbeit mit der Mutter der Künstlerin, die ihr Schnappschüsse von Spielzeug und anderen Gegenständen aus dem Haus schickte. Angyvir durchbricht die Gegensätze von Dokumentation und Erinnerung, Distanz und Sehnsucht, Dauerhaftem und Vergänglichem und bringt uns einer Erfahrung der Realität näher, indem sie letztere stets ein wenig unkenntlich macht.

Biografien:
LILI DUJOURIE
(geb. 1941 in Roeselare, Belgien, lebt und arbeitet in Lovendegem, Belgien) ist eine bildende Künstlerin, die hauptsächlich in den Bereichen Bildhauerei, Malerei und Video arbeitet. Sie vermischt Einflüsse der flämischen Primitiven mit ihrem an den späten 1960er Jahren orientierten künstlerischen Ansatz. Seit 1968 hatte sie zahlreiche Ausstellungen in Belgien und international und arbeitet mit der Antwerpener Galerie Micheline Szwajcer zusammen, wo sie zuletzt Ende 2022 ausstellte. Diese Präsentation fiel mit der Enthüllung der neuen Auftragsarbeit Mimesis für KMSKA, anlässlich der großen Wiedereröffnung des Hauses zusammen. Im Jahr 2015 widmeten das S.M.A.K. in Gent und das Mu.ZEE Ostende der Künstlerin eine gemeinsame Einzelausstellung. Zu ihren weiteren Präsentationen zählen MuHKA, Antwerpen (2022); Kohta, Helsinki (2020); Richard Saltoun Gallery, London (2019); Museum M, Leuven (2019); WIELS, Brüssel (2018); Leopold-Hoesch-Museum, Düren (2014); BOZAR, Brüssel (2005) und Argos, Brüssel (2002). Im IKOB stellte sie bereits 2001 aus.

SOPHIE NYS (geb. 1974 in Antwerpen, Belgien, lebt und arbeitet in Brüssel, Belgien) bringt konzeptionelle und minimalistische künstlerische Strategien an ihre logischen und formalen Grenzen. Sie hat an zahlreichen nationalen und internationalen Ausstellungsorten ausgestellt, darunter WIELS, Brüssel (2020); Kunsthal Extra City, Antwerpen (2019); KIOSK, Gent (2019); Guimaraes, Wien (2018); Fondazione Prada, Venedig (2018); Galeria Quadrado Azul, Lisboa (2019); Archiv, Zürich (2015); CRAC Alsace, Altkirch (2015); Museum of Contemporary Art, Chicago (2013). Ihre Filme wurden gezeigt bei FIDMarseille, BOZAR, e-flux, Internationales Filmfestival Rotterdam, Argos, Courtisane Festival, etc. Ihre Arbeit wird von den Galerien Greta Meert und Maniera (Brüssel) vertreten. Seit 2017 unterrichtet sie an der LUCA School of Arts in Brüssel.

ANGYVIR PADILLA (geb. 1987 in Caracas, Venezuela, lebt und arbeitet in Brüssel) schafft immersive Installationen, die das Konzept von „Zuhause“ als intimen Ort destillieren und dieses Konzept mit Menschen und der Natur in Beziehung setzen. Padillas künstlerische Ausbildung fand in Belgien statt, zunächst an der ARBA in Brüssel (2011-12), dann an der ENSAV La Cambre (2012-15) und der Luca School of Arts (2016-18). Im Jahr 2020 war sie die dritte Gewinnerin des ArtContest und 2021 gewann sie den ersten Preis der Freunde des S.M.A.K. Weitere Präsentationen fanden statt auf dem Krasj Festival in Ninove (2022), dem Ithaka Festival in Leuven (2019), im CIAP, Genk (2022), dem S.M.A.K Museum und Cas-co Leuven (2018), während sie sich mit Ausstellungen in Paris, Dunkerque, Belgrad, Athen und Caracas auch international einen Namen gemacht hat. Sie nimmt derzeit am Residenzprogramm der Fiminco Foundation in Paris teil.

Vernissage: 30.04.2023, 15:00


Öffnungszeiten:
Dienstag - Sonntag: 13:00 - 18:00 Uhr
Montag: geschlossen

Weitere Informationen direkt unter: www.ikob.be

Lili Dujourie, Passion de l'e?te? pour l'hiver, 1981. Copyright artist and courtesy ARGOS
02.05. - 27.08.2023

All our yesterdays

IKOB – Museum für Zeitgenössische Kunst

Rotenberg 12b
4700 Eupen