Annalisa Alloatti, Mirella Bentivoglio, Irma Blank, Betty Danon, Wanda Golkowska, Lily Greenham, Ana Hatherly, Liliane Lijn, Mira Schendel, Chima Sunada

„Ich weiß, dass es im Grunde um das folgende Problem geht. Das unmittelbare Leben, das ich erlebe und in dem ich handle, gehört mir allein, ist nicht kommunizierbar und daher ohne Sinn und Zweck. Der Bereich der Symbole, der versucht, dieses Leben zu erfassen (und der auch der Bereich der Sprache ist), ist dagegen lebensfeindlich, in dem Sinne, dass er intersubjektiv ist, geteilt wird und frei von Gefühlen und Leiden ist. Wenn es mir gelänge, diese beiden Bereiche zusammenzubringen, hätte ich den Reichtum der Erfahrung mit der relativen Beständigkeit des Symbols vereint. Mit anderen Worten: Meine Arbeit ist ein Versuch, das Flüchtige zu verewigen und dem Ephemeren einen Sinn zu geben. Dazu muss ich natürlich den Augenblick selbst einfrieren, in dem die Erfahrung mit dem Symbol – in diesem Fall mit dem Wort – verschmilzt.“ Manuscript von Mira Schendel, aus: Luis Pérez-Oramas, León Ferrari and Mira Schendel: „Tangled Alphabets“ (New York: MoMA, 2009)

In enger Verknüpfung mit Ilse Garniers Ausstellung präsentiert Concrete Experience eine Gruppe von Künstlerinnen und Poetinnen der 1960er und 70er Jahre, die auf die sympoietische Beziehung zwischen dem erweiterten konkreten Gedicht und der Erfahrung des wahrnehmenden Körpers aufmerksam machen. Concrete Experience vereint Textarbeiten, Skulpturen, Installationen, Soundaktivierungen, Performances und Konversationen.

Die Auswahl der Arbeiten, die mit Lily Greenhams Musikstück Experience aus dem Album Tendentious Neo-Semantics (1970) klangvoll eröffnet, lädt uns zu einem spielerischen und intermedialen Lesen der Entstehungsgeschichten von Gedichten ein. Andere Werke der Ausstellung lassen die Grenzen zwischen Sinnlichkeit und Bedeutung, zwischen Verbalem und Nonverbalem verschwimmen und können auf ähnliche Weise als Partituren für eine gelebte Poesie gelesen werden: Betty Danons Arbeiten aus der Serie Partitura Asemantica (1973) und Liliane Lijns Neurographs (1971) entwickeln beispielsweise neue und autonome Sprachen, indem sie Strukturelemente und Codes aus dem Bereich der Musik, der Technik und der Wissenschaft übertragen. Liliane Lijns Power Game (1974–fortlaufend) ist eine Performance, die das Glücksspiel nutzt, um die politischen Aspekte von Identität und Macht zu untersuchen. Power Game öffnet das Feld der materiellen Poesie für generative, spielerische und soziopolitische Dimensionen. Das Spiel wird mit einem Deck von Wortkarten gespielt, die poetische Verbindungen schaffen. Es ist eine Einladung an die Spieler:innen, sich mit der Bedeutung von „Macht“ anhand der von ihnen gewählten Wörter auseinanderzusetzen und ihre Entscheidung über diese Auswahl begründen. Im Kunstverein werden die Künstlerin und ein Croupier eine Performance von Power Game inszenieren. Archivmaterial aus der Geschichte von Power Game und Videos von jüngeren Performances sind während der gesamten Dauer der Ausstellung zu sehen.

Unter Erfahrung ist sowohl die Erfahrung der Leser:innen, als auch die der Dichterinnen zu verstehen. So widmet sich Irma Blank (*1934) einer Form des Schreibens, die nichts darstellen möchte, sondern einfach nur ist. Es entsteht eine dynamische Poesie der Präsenz, die in ihrer Geste zwischen Autorin und den Leser:innen widerhallt. Wanda Golkowskas (1925–2013) Arbeiten sind wiederum von Selbstreflexivität und Aufmerksamkeit geprägt und laden dazu ein, über die Überproduktion und Überfrachtung mit Informationen, die deren Integrität und Authentizität gefährden, nachzudenken. Reflexivität kann auch in der Dokumentation des Entstehungsprozesses eines Gedichts anschaulich werden, in diesem Fall in Mirella Bentivoglios De H a E (1978). In einer Bauwerkstatt wird gezeigt, wie in dem Herstellungsprozess der Buchstabe H zum Buchstaben E wird, sich dabei nicht nur materiell, sondern auch vom Buchstaben zur Sprache verändert.

Weit davon entfernt, ein statisches Objekt in Raum und Zeit zu sein, kann das Gedicht auch als ein fortlaufender Prozess oder als kontinuierliche Gegenwart aufgefasst werden, wie im Fall von Ana Hatherlys Alfabeto estrutural (1967). Dieses Werk besteht aus einer Reihe von neun Durchführungen einer Formveränderung durch die abstrakte, geometrische Motive strukturell wie eine Sprache angeordnet werden. Es ist zugleich ein neues Schreib- und Sprachsystem, das von den Leser:innen über die Grenzen der Arbeit fortgesetzt werden kann. Durch die Praxis der japanischen Shodo-Kalligrafie dekonstruiert und rekonstruiert die Künstlerin Chima Sunada (*1944) Ideogramme und lädt dazu ein, die mehrdeutigen Modifikationen von Bedeutung durch den Akt des Schreibens zu erfahren. Die in Concrete Experience ausgewählten Arbeiten Sunadas offenbaren ihre gestische und spekulative Recherche zu piktografischen Etymologien. Wenn wir das Wissen der Erfahrung und des Kontakts als Berührung und des Berührtwerdens erleben sollen, so bietet Annalisa Alloattis Cecità (1967) eine meditative Reflexion über die Poesie und Materialität der Brailleschrift (internationale Blindenschrift). Für Alloatti ist diese Schrift eine Sprache der Sinne in Beziehung zueinander oder eine bindende Energie des Dazwischen: der Bedeutung, des Visuellen und des Haptischen.

Kuratiert von Alex Balgiu und Anja Casser, initiiert mit Andrew Hunt


Öffnungszeiten:
Dienstag - Freitag: 11:00 - 19:00 Uhr
Samstag - Sonntag: 11:00 - 17:00 Uhr
Montag: geschlossen

Weitere Informationen direkt unter: badischer-kunstverein.de