Das Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg (MK&G) präsentiert mit „Linda Fregni Nagler. Fotografie neu ordnen: Blickinszenierungen“ die erste Einzelausstellung der italienischen Künstlerin Linda Fregni Nagler (* 1976) in Deutschland. Auf assoziative Weise verbindet sie zwei Werkgruppen mit ausgewählten Fotografien aus der Sammlung des MK&G. Die Zusammenschau verhandelt den Themenkomplex von Anschauen und Angeschaut-Werden, von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit – zentrale Aspekte des Mediums Fotografie. In ihrer künstlerischen Praxis reaktiviert Linda Fregni Nagler seit vielen Jahren historische Fotografien, bearbeitet und übersetzt sie und nimmt dabei gleichzeitig die Perspektive einer Sammlerin und Kuratorin ein. So transferiert sie Themen wie die Repräsentation von Frauen und – im fotografischen Blick angelegte – ungleiche Machtstrukturen in die Gegenwart. 
Die Ausstellung findet in der Reihe „Fotografie neu ordnen“ statt, die Künstler*innen und Wissenschaftler*innen einlädt, sich mit den historischen Beständen des MK&G auseinanderzusetzen. Linda Fregni Nagler ist die fünfte Künstlerin in dieser Reihe.

HOW TO LOOK AT A CAMERA 
Die Ausstellung zeigt die Werkgruppe „How to Look at a Camera“ (2019–2020). Darin beschäftigt sich Linda Fregni Nagler mit der Blickinszenierung in Bezug auf den – meist weiblichen – Körper, mit dem Posieren vor der Kamera und dem spielerischen Dialog zwischen Fotograf*in und Modell. Ausgangspunkt für ihre Beschäftigung mit dem Thema ist die historische Aufnahme einer Gruppe von blinden Brasilianer*innen.

BLIND BRAZILIANS 
Das titelgebende Dia, das die Künstlerin in eine aquarellierte Zeichnung übersetzt, trägt am linken Rand die Beschriftung „Blind Brazilians“. Das Gruppenporträt zeigt ein sitzendes Paar, hinter denen sich weitere vier Personen staffiert haben. Zwei der Männer tragen getönte Brillen, der Hinweis auf ihre Blindheit wird erst durch die Beschriftung deutlich. Am Porträt von Blinden stellt Linda Fregni Nagler das Wesen der Porträtfotografie exemplarisch in Frage. Was passiert, wenn die Kontrolle über das eigene Abbild fehlt und das „Bild“ nicht von dem Blick in die Kamera geprägt ist? Das Porträt der Blinden transportiert so in besonderer Weise ein gewaltsames Moment, das jeder Fotografie innewohnt: das Machtgefälle zwischen der Person, die anschaut – der Fotograf*in – und jenen, die angeschaut und zu Objekten der Betrachtung werden.

Naglers Überlegungen zu Fotografien von Blinden im 19. Jahrhundert sind auch Ausgangspunkt für ihre Fotografien von verschiedenen Rückenfiguren. Die Künstlerin hat fünf dieser Aufnahmen in großformatige Heliogravüren übertragen und untersucht so die mal spielerischen, mal rätselhaften Beziehungen der Modelle zu ihren Fotograf*innen. Die Vorstellung, wie die eigene Pose im Bild erscheine, sei noch nicht eingeübt, so Linda Fregni Nagler, was die Rückenfiguren zu Verwandten der blinden Brazilianer*innen mache. 

Es bleibt ungeklärt, für welchen Zweck diese ungewöhnlichen „Porträts“ aufgenommen wurden. Sind es Studien aufwändig gestalteter Kleidung, fotografische Versuche zur räumlichen Gliederung oder werden wir Zeug*innen eines Freizeitvergnügens? Die Technik, die für die historischen Vorlagen verwendet wurde, lässt letzteres vermuten. Denn die Ferrotypie war eine schnelle und billige Fotografie auf Eisenblech, die um 1880 vielfach auf Jahrmärkten als Erinnerungsbild erstellt wurde. Auch mit der Heliogravüre nutzt Linda Fregni Nagler ein Verfahren des 19. Jahrhunderts, das heute nur noch selten genutzt wird. Dabei wird das Foto auf eine Kupfermatrize übertragen und anschließend mit Pigmenten gedruckt. Die Künstlerin thematisiert mit der Formatveränderung und dem Druckverfahren den materiellen Aspekt der Fotografie und gibt dem Gegenstand eine malerische Qualität.

TAPADA LIMEÑA
Die zweite Serie umfasst zehn Arbeiten und widmet sich der Mode der „Tapada Limeña“, einer besonderen Verschleierung peruanischer Frauen. Ein Überwurf aus Seide lässt dabei nur einen Teil des Gesichts und ein Auge frei.
Fregni Naglers künstlerischer Eingriff besteht aus der Auswahl und wiederholenden Kombination, aber auch aus subtilen Änderungen in Format, Farbe und Materialität der Bilder. Sie verweist so auf die Geschichtlichkeit der Aufnahmen und auf ihre Herkunft als ideologische Schöpfungen aus europäischer Perspektive, ganz im Geiste des 19. Jahrhunderts. 

GESCHICHTE DER TAPADA LIMEÑA
Diese Art der Verschleierung gelangte im 15. Jahrhundert durch christliche andalusische Einwanderinnen nach Lima. Sie imitiert wiederum die Verschleierung der muslimischen Emigrantinnen in Spanien, und machte es den Frauen in den Großstädten Perus möglich, in der Öffentlichkeit zu verkehren. In der heutigen Interpretation der Mode werden weniger religiöse Konnotationen betont, stattdessen sieht man in ihr Aspekte eines politischen Widerstandes. Die „Tapada“ war in den Städten bei Angehörigen der Criolla – der Klasse spanischstämmiger Kaufleute und peruanischer Landbesitzer*innen – anzutreffen und gab den Frauen im Schutz der Anonymität eine gewisse Unabhängigkeit. Von der Reisefotografie um 1900 wurde diese im Verschwinden begriffene Tradition als Mode interpretiert. Die Fotografen inszenierten Frauen in dieser Zeit als faszinierende, verführerische, geheimnisvolle und rebellische Stadtbewohnerinnen. 

CARTE DE VISITE 
Linda Fregni Nagler eignet sich die „Carte de visite” des 19. Jahrhunderts der peruanischen Fotoateliers Eugenio Maunoury, Emilio Garreaud und Courret Hermanos an. Diese Vorläufer der heutigen Visitenkarten – damals als bebilderte Sammelkarten beliebt – zeigen die „Tapada Limeña“. Sie erinnern an die sogenannten Typenporträts oder „Costumes“. In diesem Genre wurden traditionelle Berufe und ihre historischen Trachten für einen europäischen, touristischen Bildermarkt im Fotostudio inszeniert. Auch die Porträts der verschleierten peruanischen Frauen entstehen für europäische Betrachter*innen und rufen Bildvorstellungen auf, die von katholischen Nonnen bis zu verschleierten Frauen des Nahen Osten reichen, die im 19. Jahrhundert als „exotische“ und geheimnisvolle Wesen inszeniert und gelesen wurden.

IM DIALOG MIT DER SAMMLUNG
In den Bildgegenüberstellungen aus der Sammlung interessiert sich die Künstlerin für das Ansehen, Aspekte der Unsichtbarkeit und der Rätselhaftigkeit der Bildsujets. So wählt sie beispielsweise eine Fotografie von Eugène Aget aus dem Jahr 1912. Darin schaut eine Gruppe von Passant*innen konzentriert und mit Sehhilfen den Himmel – das Naturschauspiel der Sonnenfinsternis selbst bleibt verborgen. Eine mittelalterliche Rüstung, die um 1890 fotografiert wurde, bildet beispielsweise eine Frau von hinten ab, wobei unklar ist, ob es sich um eine Frau oder eine Puppe handelt. Außerdem werden Aufnahmen von Spiegeln, die geisterhaft leer erscheinen, und das Visier einer Prunkrüstung, aus dem man weder hinaus noch hineinschauen kann, präsentiert. 

BIOGRAFIE
Linda Fregni Nagler (* 1976 in Stockholm, Schweden) studierte von 1996 bis 2000 Malerei an der Accademia di Brera, Mailand, Visuelle Kunst bei Jimmie Durham an der Fondazione Ratti, Como, und Film und Fotografie an der Escuela International de Cine y Television (EICTV), San Antonio de Los Baños (Cuba). Fregni Nagler lebt in Mailand und unterrichtet dort Fotografie an der Accademia di Brera und an der Universität IULM. Sie hatte Einzelausstellungen unter anderem am MAXXI Museo Nazionale delle Arti del XXI Secolo, Rom (2014) und in der Galleria Monica De Cardenas (2011, 2015, 2019) sowie Beteiligungen an Gruppenausstellungen, darunter „Io dico Io – I say I“ in der Galleria Nazionale d’Arte Moderna e Contemporanea, Rom; „Aby Warburg. Mnemosyne Bilderatlas. Rekonstruktion – Kommentar – Aktualisierung“, ZKM. Zentrum für Kunst und Medientechnologie Karlsruhe; „The Camera’s Blind Spot III, THE CAMERA – On the Materiality of Photography”, Palazzo De’ Toschi, Bologna; „The Enciclopedic Palace“, Biennale von Venedig 2013. Ihre dort präsentierte Arbeit „The Hidden Mother“ erschien 2013 als Künstlerinnenbuch beim Verlag MACK in London. Fregni Nageler kuratierte 2017 „Hercule Florence. Le Nouveau Robinson“ mit Cristiano Raimondi im Nouveau Musée National de Monaco, der gleichnamige Katalog ist bei Humboldt Books in Mailand erschienen.