Seit den 1920er Jahren trug der Chemnitzer Unternehmer Fritz Niescher (1889–1974) eine exquisite Kollektion moderner Kunst zusammen. Im Zentrum seiner Aufmerksamkeit standen die beiden so konträren Künstlerpersönlichkeiten Ernst Barlach (1870–1938) und Otto Dix (1891–1969), von denen Niescher jeweils umfangreiche Werkgruppen erwarb. Zwischen den Polen von Expressionismus und Neuer Sachlichkeit entfaltet die Sammlung Niescher ein facettenreiches Kaleidoskop der Moderne: Rund 520 Werke von 30 Künstlerinnen und Künstlern bezeugen Nieschers Blick für Qualität und sein Interesse an den künstlerischen Strömungen seiner Gegenwart.

In den vergangenen Jahrzehnten weitgehend vor den Augen der Öffentlichkeit verborgen, ist Nieschers Privatsammlung seit 2021 als Dauerleihgabe in der Kunstsammlung Gera beheimatet; dort war sie seither in zwei Auswahl-Ausstellungen zu sehen. Nun präsentiert das Ernst Barlach Haus in Kooperation mit der Kunstsammlung Gera 70 Hauptwerke der Sammlung – Arbeiten auf Papier und Plastiken von 15 Künstlern und einer Künstlerin: Ernst Barlach, Otto Dix, Lyonel Feininger, Paul Gauguin, Ludwig Gies, George Grosz, Carl Hofer, Paul Klee, Oskar Kokoschka, Georg Kolbe, Aristide Maillol, Otto Mueller, Emil Nolde, Richard Scheibe, Karl Schmidt-Rottluff und Renée Sintenis. 

Bereits in den 1920er-Jahren begann sich der erfolgreiche Margarine-Produzent Fritz Niescher für das Schaffen Ernst Barlachs zu interessieren; wiederholt konnte er dessen Werke auf Ausstellungen in Chemnitz studieren. 1929 erwarb Niescher eine erste Handzeichnung, bis 1932 folgten weitere sechs, 1935 kam es dann zu einer ersten (und einzigen) Begegnung mit dem Künstler in Güstrow. Es war dasselbe Jahr, in dem auch auch Hermann F. Reemtsma seine folgenreiche Bekanntschaft mit Barlach schloss und den Grundstein für die Sammlung legte, die heute das Ernst Barlach Haus beherbergt. 1939/40 erwarb Niescher, der wie Reemtsma den Künstler trotz seiner Verfemung als »entartet« unterstützte, auf einen Schlag 63 Werken aus dem Nachlass des Künstlers, und bis 1965 wuchs seine Barlach-Sammlung auf 91 Zeichnungen und einige plastische Arbeiten an. Drei bedeutende Holzskulpturen sind darunter: Alte Frau mit Stock (1913), Stehende Bäuerin (1921) und das Relief Der Übergang (1918).

Bereits 1972, zwei Jahre vor dem Tod des Sammlers, stellte das Ernst Barlach Haus Nieschers BarlachZeichnungen erstmal komplett aus. Fünfzig Jahre später sind in der Schau Illustre Gäste neben einer hochkarätigen Auswahl von einem guten Dutzend Blätter nun auch die drei Holzskulpturen zu sehen. Im Wechselspiel mit Werken der Reemtsma-Sammlung geben sie umfassenden Einblick in Barlachs Werkentwicklung als Bildhauer und Zeichner: von seinen leichtfüßigen Anfängen im Jugendstil bis zu den gravitätischen Figurationen der 1920er-Jahre.

Anders als im Falle Ernst Barlachs wuchs das Dix-Konvolut der Sammlung Niescher in einer Jahrzehnte währenden Verbundenheit mit dem Künstler. Niescher traf Otto Dix erstmals 1933, kurz nach seiner von den Nationalsozialisten betriebenen Entlassung aus dem Lehramt an der Dresdner Kunstakademie; noch im selben Jahr übersiedelte Dix mit seiner Familie an den Bodensee. Bis zum Ende des Jahrzehnts widmete sich Niescher besonders intensiv Dix‘ Schaffen: Zwischen 1933 und 1939 wuchs seine Kunstsammlung um mehr als sechzig Dix-Werke, darunter fünf Gemälde sowie über fünfzig hoch empfindliche (und deshalb heutzutage nicht ausleihbare) Silberstiftzeichnungen. Dix‘ altmeisterlich-allegorische Bilder aus den Jahren der »inneren Emigration« – vornehmlich Landschaften und biblische Historien – werden ergänzt durch einige Auftragsporträts der Familien von Fritz Niescher und seinem Bruder Max. Ab Mitte der 1950er Jahre ergänzte Niescher seine Dix-Sammlung um das umfangreiche lithografische Spätwerk des Künstlers.

Als wichtiges Dix-Werk der Zeit nach 1933 (die derzeit in der umfangreichen Schau Dix und die Gegenwart in den Hamburger Deichtorhallen gewürdigt wird) ist die großformatige Vorzeichnung für das Gemälde Triumph des Todes (1934, Kunstmuseum Stuttgart) in der Ausstellung Illustre Gäste zu sehen. Der mehrteilige Karton in der Sammlung Niescher ist heute Fragment: Zwei der ursprünglich sechs Teile dieser komplexen Lebensalter-Allegorie wurden im Herbst 1945 von sowjetische Soldaten vor den Augen des Sammlers zerrissen – sie zeigten den sensenschwingenden Tod neben einem behelmten Wehrmachtssoldaten.

Über dieses künstlerisch wie historisch bedeutsame Dokument hinaus konzentriert sich die Ausstellung auf die frühen Dix-Werke in Nieschers Sammlung: Gouachen, die der junge Weltkriegssoldat Dix an der Westfront malte, und Blätter der 1920er-Jahre, in denen er eine Welt zwischen Amüsierlust und Armseligkeit beschreibt. Aquarelle von George Grosz (1893–1959) runden den Blick in den neusachlichen Bereich der Sammlung Niescher ab.

Daneben sind, in Ergänzung zu Barlachs prägnanter Formvereinfachung, weitere expressive Tendenzen der Klassischen Moderne zu entdecken. Ein farbkräftiges Blumenstilleben Emil Noldes (1867–1956) fand ebenso Nieschers Interesse wie späte Landschaften des Brücke-Malers Karl Schmidt-Rottluff (1884–1976) oder Akte von Otto Mueller (1874–1930) und Carl Hofer (1878–1955).

Geometrische Konstruktion und feines Linienspiel wiederum charaktierisiert die Zeichnungen der beiden langjährigen Bauhaus-Lehrer Lyonel Feininger (1871–1956) und Paul Klee (1879–1940). Klees Zeit an der wegweisenden Kunsthochschule des frühen 20. Jahrhunderts ist durch vier aquarellierte Federzeichnungen aus den Jahren 1923–25 besonders qualitätvoll repräsentiert.

Eine reizvolle Ergänzung zu Arbeiten auf Papier bilden die Kleinplastiken in Nieschers Sammlung. Besondere Wertschätzung brachte Niescher Aristide Maillol (1861–1944) entgegen, der als Schöpfer harmonisch in sich ruhender weiblicher Aktfiguren zum einflussreichsten französischen Bildhauer der Moderne neben seinem Antipoden Auguste Rodin wurde. Aber auch die deutsche Bildhauerei der Vorkriegszeit ist namhaft präsent, etwa durch Akte von Georg Kolbe (1877–1947) oder Tierplastiken von Renée Sintenis (1888–1965). Ihre charmanten Darstellungen lebenslustiger Fohlen und Ponys sind variationenreich vertreten. Eine Entdeckung sind die Miniaturen des Münchners Ludwig Gies (1887– 1966), der um 1920 nach Berlin kam und dort 1924 eine Professor für dekorative Plastik übernahm. Als Mitglied des Deutschen Werkbunds suchte Gies in seinen Medaillen, Mosaiken, Glasmalereien und Reliefs eine fruchtbare Verbindung von freier und angewandter Kunst – zu großer Bekanntheit gelangte sein monumentaler Bundesadler (1953) im Plenarsaal des Bonner Bundestags. Die Sammlung Niescher zeigt Gies als Meister des kleinen Formats mit eigenwillig stilisierte Porzellan-, Elfenbein- und Silberfigürchen.

Als Zeugnis einer persönlichen Passion für die Kunst hat die Sammlung Fritz Nieschers eine wechselvolle Geschichte durchlebt und überstanden. Nach einer Betriebsenteignung durch die Sowjetische Militäradministration im Oktober 1945 blieb Fritz Niescher zunächst in Chemnitz, entschied sich aber im Sommer 1951 – nach der Gründung der DDR (1949) und der damit besiegelten Festschreibung der deutschen Teilung – die Stadt zu verlassen und nach Aachen zu ziehen. Seine Dix-Werke hatte Niescher zuvor nach Dresden bringen lassen (wo sich Dix seit 1949 wieder regelmäßig aufhielt), der restliche Kunstbesitz war in Chemnitz eingelagert worden. Es brauchte Jahre, um Nieschers Kunstsammlung unter Mühen und auf abenteurlichen Wegen in den Westen Deutschlands zu überführen. Auch Otto Dix war aktiv daran beteiligt. Niescher revanchierte sich dafür mit der Beschaffung qualitätvoller Büttenpapiere, auf die Dix in Dresden seine Lithografen druckte.

Durch Ausstellungen, Dauerleihgaben einzelner Werke an Museen und Publikationen trug Fritz Niescher vor allem sein Dix- und Barlach-Engagement von Aachen aus in die Öffentlichkeit. Nach seinem Tod 1974 wurde es still um seine Sammlung. Nun steht sie Kunstfreunden wieder offen.

Paul Gauguin: Joies de Bretagne (Vergnügungen der Bretagne), 1889, Kunstsammlung Gera, Dauerleihgabe Sammlung Niescher
01.10.2023 - 28.01.2024

Dix, Grosz, Barlach, Klee. Illustre Gäste aus der Sammlung Niescher

Ernst Barlach Haus

Baron-Voght-Straße 50a (Jenischpark)
22609 Hamburg