John Akomfrah (*1957) erschafft nachdenkliche Videoarbeiten von eindringlicher audiovisueller Intensität. Auf großformatigen Screens erzählt er von Umbrüchen der Vergangenheit und Krisen der Gegenwart. Dem in Deutschland bisher eher wenig bekannten, eindrucksvollen Werk des Künstlers widmet die Schirn Kunsthalle Frankfurt vom 9. November 2023 bis zum 28. Januar 2024 erstmals eine umfassende Ausstellung mit einer Auswahl von drei bedeutenden, raumumspannenden Multi-Screen-Installationen aus den vergangenen Jahren: The Unfinished Conversation (2012), Vertigo Sea (2015) und die neue Arbeit Becoming Wind (2023). Häufig in Form von simultanen Erzählstrukturen und sehr spezifisch eingesetztem Sound, verwebt der Mitbegründer des einflussreichen Londoner Black Audio Film Collective (1982-1998) eigene filmische Aufnahmen mit Archivmaterial zu vielschichtigen, mitunter assoziativen Collagen. Akomfrahs immersive Installationen setzen sich kritisch mit kolonialen Vergangenheiten, globaler Migration oder der Klimakrise auseinander. In seiner Arbeitsweise beschäftigt sich der Künstler mit der Eindimensionalität geschichtlicher Darstellungen, indem er in seinen Erzählungen ein Gefüge aus mehreren Perspektiven entstehen lässt. Akomfrahs Werk bricht mit der Vorstellung von Linearität, mit der Illusion der einen Wahrheit.

Die Ausstellung „John Akomfrah. A Space of Empathy“ wird gefördert durch die Stadt

Dr. Sebastian Baden, Direktor der Schirn Kunsthalle Frankfurt, betont: „Was das Werk von John Akomfrah so eindrücklich macht, ist die Konsequenz, mit der er Erzählstränge über Migration, Klimakrise oder koloniale Vergangenheiten zusammenführt. Es sind die großen Themen der Gegenwart, für die er als internationaler Künstler Sensibilität schaffen will. Zeitübergreifend verbinden seine Videoinstallationen neu gedrehte Filmsequenzen und Archivmaterial zu Bildern von bewegender Emotionalität. Es gäbe keinen besseren Moment, um Akomfrahs essenzielle Fragen an das Miteinander zwischen Mensch und Umwelt nach Deutschland und an die Schirn zu holen – um sie hier zu diskutieren.“

Julia Grosse, Kuratorin der Ausstellung, erläutert: „John Akomfrah möchte das nicht Gesehene, das nicht Erzählte, das nicht Gehörte hervorbringen. In poetischen und starken Bildern beschreiben seine Installationen die Dringlichkeit seiner Themen, und dies ohne zu moralisieren. Es gelingt dem Künstler, komplexe Verbindungen differenziert einzubeziehen und herzustellen. Akomfrah interessiert sich nicht nur für menschliche Sichtweisen, er denkt die Narrative der belebten Mitwelt, etwa der Pflanzen und Tiere stets dazu. Durch seine Arbeit bietet er Perspektivwechsel an und hinterfragt die Konsequenzen kollektiven und individuellen Handelns. Im Grunde möchte er mit den Besucher*innen einen Raum für Empathie schaffen.“

OFFENER LESERAUM
Den Auftakt der Ausstellung bildet ein Leseraum, der während der Öffnungszeiten der Schirn auch ohne Ausstellungsticket kostenfrei zugänglich ist. Dort sind Publikationen zusammengestellt, die sich direkt, aber auch assoziativ auf das Werk John Akomfrahs und die zentralen Fragen seinerFrankfurt.
Arbeiten beziehen. Neben Literatur aus seiner eigenen Bibliothek wurde die Büchersammlung um entsprechende Titel erweitert. Den Arbeiten des Künstlers geht stets eine umfangreiche Recherche voraus, die filmisches Archivmaterial ebenso umfasst wie unterschiedlichste Bücher. Der offene Leseraum kann aktiv genutzt werden – zum Stöbern, zum Vertiefen von Gedanken, für Gespräche. Hier finden auch kreative Lese-Sessions des SCHIRN BOOKCLUB sowie Workshops statt.

THE UNFINISHED CONVERSATION
2012, Drei-Kanal-HD-Videoinstallation, 7.1 Sound, 54:48 Minuten
Die intensive Drei-Kanal-Installation The Unfinished Conversation ist eine Hommage an den renommierten und einflussreichen britischen Kulturtheoretiker, Soziologen und Begründer der Cultural Studies Stuart Hall (1932-2014), mit dem Akomfrah lange bekannt war. Der Künstler beschreibt hier eine sensible, fast poetische Auseinandersetzung mit Halls Vermächtnis und befragt anhand von Halls eigenem Leben dessen Theorien und Vorstellungen von Identität, Immigration und Kolonialismus. Akomfrah verwebt meisterhaft unterschiedliches Material, das unter anderem dem umfangreichen Archiv des Kulturtheoretikers stammt, darunter seine Reden und Interviews sowie Fotografien, mit historischen Ereignissen. Es entsteht ein vielschichtiger Klang- und Erlebnisraum, der einen kritischen Blick auf die britische Gesellschaft wirft. The Unfinished Conversation beginnt mit bunten Landschaftsaufnahmen aus der Karibik, die Akomfrah mit Schwarz-Weiß-Szenen aus dem industrialisierten England kombiniert. Hall wurde 1932 auf Jamaika geboren und kam 1951 für das Studium der Literaturwissenschaft nach Oxford. In seiner Videoinstallation verbindet Akomfrah Halls theoretische Arbeit sowie sein Wirken in Rundfunk und Fernsehen in den 1950er- und 1960er-Jahren mit Aufnahmen politischer Ereignisse, die Großbritannien in dieser Zeit prägten. Unter anderem stellt er Bezüge zum ungeklärten Mord an dem antiguanischen Kelso Cochrane her, zur Kampagne für nukleare Abrüstung und zum Marsch von Aldermaston. Zudem gibt es literarische Referenzen, etwa zu William Blake, Charles Dickens und Virginia Woolf. Jazzmusik zieht sich als weiterer zentraler Aspekt durch den Film, sowohl im Sound als auch über Sequenzen von Musiker*innen und sich drehenden Schallplatten durch den Film. Die Installation verhandelt Halls Ansatz, dass Identität kein Wesen oder Sein ist, sondern ein ständiges, sich im Fluss befindendes „Werden", ein Produkt der Geschichte, von Erinnerungen und der Überschneidungen von Öffentlichem und Privatem. Für Hall waren Identität und ethnische Zugehörigkeit keine feststehenden Begriffe, sondern Bestandteile eines „immer unvollendeten Gesprächs". The Unfinished Conversation kann als experimentelle Erweiterung einer dokumentarischen Ästhetik gelesen werden, aber auch als umfassende, kritische Sichtbarmachung und Hinterfragung eindimensionaler Narrative über die Lebensrealitäten Schwarzer Menschen in Großbritannien.

VERTIGO SEA
2015, Drei-Kanal-HD-Farbvideoinstallation, 7.1 Sound, 48:30 Minuten
Vertigo Sea ist eine poetische, zwischen den Jahrhunderten springende filmische Meditation über die Beziehung der Menschen mit dem Meer. Auf drei großen Leinwänden verbindet Akomfrah selbst gefilmte Aufnahmen von den Färöer-Inseln, auf Skye und in Norwegen mit Archivmaterial, darunter atemberaubende Naturdokumentationen der BBC, und verwebt sie mit vorgetragenen Fragmenten aus den Büchern Moby Dick (1851) von Herman Melville und Whale Nation (1988) von Heathcote Williams. Im Fokus stehen das Meer und mit ihm verbundene Ausbeutungsstrukturen sowie aktuelle ökologische Fragen. Schönheit und Schrecken laufen in dicht geschnittenen Bildern parallel. Der Künstler verknüpft exemplarisch die Walfangindustrie und die Verschleppung von Millionen Afrikaner*innen während des transatlantischen Menschenhandels. Akomfrah zeigt etwa eine Szene aus einem Spielfilm, die das real stattgefundene Massaker durch die Besatzung des britischen Schiffes Zong im Jahre 1781 an mehr als 130 versklavten Menschen beschreibt. Ebenso spielen die Tragödien von Geflüchteten eine Rolle, die gegenwärtig versuchen, das Meer zu überqueren. Immer wieder ist in der Videoinstallation auch eine Person in historischer Uniform zu sehen. Sie verkörpert den als Kind aus Nigeria entführten und versklavten Olaudah Equiano (1745-1797), der später als freier Mann zum wichtigen Kämpfer gegen den Menschenhandel wurde. Das Einflechten von Biografien wie dieser ist ein typischer Handgriff Akomfrahs, um den Fokus auf die übersehenen Aspekte der Geschichte(n) zu richten. Die Überschneidung von Genres, Epochen und Perspektiven ist auch in Vertigo Sea ein erkennbares Stilmittel, mit dem der Künstler unvermutete Bezüge herstellt und die Vorstellung der linearen Erzählung durchbricht. Vertigo Sea wurde auf der 56. Biennale von Venedig (2015) als Teil der Ausstellung „All The World's Futures" von Okwui Enwezor uraufgeführt und ist eine der zentralen Arbeiten Akomfrahs.

BECOMING WIND 
2023, Fünf-Kanal-HD-Video, Farbe und schwarz-weiß, 7.1 Surround-Sound, 31:45 Minuten
Auf fünf Leinwänden erschafft Akomfrah in seiner neuen Arbeit Becoming Wind eine allegorische Darstellung vom Garten Eden – und seines Verschwindens. In elegischen Schwarz-Weiß-Szenen taucht die Installation in eine Vergangenheit ein, in der Tier- und Pflanzenarten noch in üppiger Vielfalt auf dem Planeten vorhanden waren und richtet den Blick ebenfalls auf das menschenzentrierte labile Ökosystem des Anthropozäns, auf die aktuelle Epoche des Klimawandels. Wiederholt erscheinen Sätze auf den Bildschirmen, von denen sich, etwa im Kontext der Klimakrise, viele Menschen angesprochen fühlen: „Wir müssen schnell sein“ (We need to be quick), oder „Es bewegt sich unter uns“ (It moves among us). Widerholt sind Kinder am Strand und im Spiel mit den Wellen zu sehen. Gleichzeitig begleitet das Video trans* Akteur*innen und Aktivist*innen in ihrem Alltag. Dabei geht es dem Künstler um eine spezifische Erfahrung, aus der sich etwas sehr Universelles ablesen lässt: das tiefe Bedürfnis, die eigene Identität frei zu entfalten. Die flexiblen Identitäten der Zukunft müssen sich nie dagewesenen Herausforderungen stellen. Hier erkennt Akomfrah Überschneidungen zu den sich dramatisch wandelnden ökologischen Räumen, und die künftige Anpassung an diese. „Wir müssten fast zu etwas Windartigem werden, um dorthin zu gelangen“, sagt der Künstler in Bezug auf die rasanten Veränderungen der Gegenwart. Das Video feierte in diesem Jahr auf der 15. Sharjah Biennale seine Premiere.

JOHN AKOMFRAH (*1957) lebt und arbeitet in London. Akomfrah war 1982 Mitbegründer des einflussreichen Black Audio Film Collective in London. Er hatte zahlreiche Einzelausstellungen, u.a. im Hirshhorn Museum and Sculpture Garden, Washington DC, USA (2022); Remai Modern, Saskatoon, Canada (2022); Towner Eastbourne, Eastbourne, U.K. (2021); Fundació Antoni Tàpies, Barcelona, Spanien (2021); Centro Andaluz de Arte Contemporáneo, Sevilla, Spanien (2020); Seattle Art Museum, Seattle, Washington (2020); Secession, Wien, Österreich (2020); BALTIC, Gateshead, U.K. (2019); ICA Boston, Boston, MA, USA (2019); Museu Coleção Berardo, Lissabon, Portugal (2018); New Museum, New York (2018); Bildmuseet, Universität Umeå, Schweden (2018, 2015); SFMOMA, San Francisco, CA, USA (2018); und Museo Nacional Thyssen-Bornemisza, Madrid, Spanien (2018). Seine Teilnahme an internationalen Gruppenausstellungen umfasst u. a.: 15. Sharjah Biennale, Sharjah, Vereinigte Arabische Emirate (2023); The Africa Institute, Sharjah, UAE and Accra, Ghana (2022); North Carolina Museum of Art, Raleigh, NC, USA (2022); Museum of Contemporary Art Busan, Busan, Südkorea (2021); Art Gallery of New South Wales, Sydney, Australien (2021); Art Museum KUBE, Ålesund, Norwegen (2021); Taipei Fine Arts Museum, Taipei, Taiwan (2021); City Gallery, Wellington, Neuseeland (2020); Ghana Pavilion, 58. Biennale Venedig (2019); New Museum, New York, USA / The Store X, London, Großbritannien (2018); Prospect 4, New Orleans, Louisiana, USA (2017); Museum of Modern Art, New York, USA (2017); 56. Biennale Venedig, Italien (2015); und The Power Plant, Toronto, Kanada (2015). Akomfrah war auf vielen internationalen Filmfestivals zu sehen, wie dem Sundance Film Festival, Utah, USA (2013, 2011) und dem Toronto International Film Festival, Kanada (2012). Im Jahr 2017 wurde er mit dem Artes Mundi-Preis ausgezeichnet. 2024 wird er Großbritannien auf der 60. Biennale Venedig vertreten.

KATALOG
John Akomfrah. A Space of Empathy, herausgegeben von Julia Grosse und Sebastian Baden, mit Beiträgen von Julia Grosse und Nelly Y. Pinkrah, einem Interview mit dem Künstler John Akomfrah sowie einem Vorwort des Direktors der Schirn Kunsthalle Frankfurt Sebastian Baden, deutsch-englische Ausgabe, 120 Seiten, ca. 130 Abbildungen, 21,5 x 27,5 cm, Hardcover, Archive Books, ISBN 978-3-949973-44-4