Im Jahr 1923, vor nahezu einem Jahrhundert, erhielt die visionäre Malerin und Gestalterin Sonia Delaunay (1885, Odessa - 1979, Paris) ihren ersten Auftrag von einem Lyoner Textilfabrikanten, der ihre künstlerische Laufbahn auf bemerkenswerte Weise änderte: Sie entwarf fortan im großen Stil Musterstoffe für Mode und Innenausstattung, die ihr zu internationalem Erfolg verhalfen - das Atelier Simultane war geboren. Seit Beginn des 20. Jahrhunderts zählten Sonia Delaunay und ihr Ehemann

Robert zu den Pionieren der abstrakten Malerei und machten sich einen Namen durch die markenähnliche Verwendung des Begriffes „Simultané", der sich auf ihre charakteristische Malweise mit sogenannten simultanen Farbkontrasten bezog. Sonia Delaunay gelang es, die Errungenschaften dieser reinen Farbmalerei und der Abstraktion auf die Oberflächen des modernen Lebens zu übertragen, wobei Stoffe eine Schlüsselrolle spielten. Im Jahr 2019 erhielt die Sammlung der Kunstmuseen Krefeld eine spektakuläre Ergänzung: Ein umfangreiches Konvolut von rund 100 Textilentwurfszeichnungen der Künstlerin wurde auf Initiative der Direktorin Katia Baudin erworben.

Sie demonstrieren die Fusion von Kunst und Alltag, von Malerei und angewandter Kunst und sind Ausgangspunkt der Ausstellung. „Sonia Delaunay verkörpert die Beziehung zwischen den Avantgarden und der Textil- und Modeindustrie wie keine andere Künstlerin des 20. Jahrhunderts", sagt Direktorin und Co-Kuratorin der Ausstellung Katia Baudin. „Wir sind sehr glücklich darüber, unser bedeutendes Zeichnungskonvolut in Krefeld in einer innovativen und vielseitigen Ausstellung zeigen zu können. Im Kontext mit vielen noch nie öffentlich gezeigten Leihgaben können wir ein wichtiges Kapitel aus der Geschichte Sonia Delaunays präsentieren, das bislang unbekannt war."

Die Krefelder Delaunay-Zeichnungen aus dem Zeitraum 1920 bis 1950, die das Herz der Ausstellung bilden, zeigen die überwältigende Bandbreite von Sonia Delaunays Erfindungsreichtum, ihren experimentierfreudigen Farbsinn sowie ihren offenen Umgang mit medienübergreifender Gestaltung. „Die erste Ausstellung im deutschsprachigen Raum zu Sonia Delaunay und ihrem umfassenden Erfindungsreichtum im Bereich der angewandten Kunst zu unterstützen, ist ein erfreuliches Unterfangen. Maison Sonia spiegelt gelungenes Engagement in Vermittlung und Erschließung von hochkarätiger Kunst ganz im Sinne unseres Gründers wider", freut sich Dr. Martin Hoernes, Generalsekretär der Ernst von Siemens Kunststiftung.

Die Ausstellung erkundet Sonia Delaunays reiches angewandtes Werk mit besonderem Augenmerk auf die Ursprünge und Bedeutung des „Simultané", ihre Werkstatt, ihre Talente als Netzwerkerin und Geschäftsfrau, ihre industriellen Kollaborationen und ihre geradezu unendliche mediale Vielfalt von den 1910er bis in die 1970er Jahre. Sie versammelt ein interdisziplinäres Spektrum an Werken

-darunter wichtige internationale Leihgaben aus Deutschland, Frankreich, Großbritannien, den Niederlanden, Belgien und der Schweiz-aus den Bereichen Mode, Textil, Mobiliar, Werbe- und Buchkunst, Film und Fotografie, reizvoll inszeniert in einer ortspezifischen Ausstellungsarchitektur von Meyer Voggenreiter. Ein besonderer Fokus liegt natürlich auf dem hauseigenen Bestand: Im Zeitraum

2020-2022 wurden das Krefelder Zeichnungskonvolut und seine Provenienz von Waleria Dorogova im Rahmen des Programmes Forschungsvolontariat Kunstmuseen NRW, gefördert durch das Ministerium für Kultur und Wissenschaft des Landes Nordrhein-Westfalen, wissenschaftlich erforscht.

Die Ergebnisse dieser Arbeit liegen der Ausstellung und der Begleitpublikation zugrunde. Die Arbeiten waren ursprünglich Teil einer Sammlung, die der in Paris und Lyon tätige Textilunternehmer Robert Perrier (1898-1987) in den 1940er Jahren unmittelbar von Sonia Delaunay erwarb. Bereits im Laufe der 1930er Jahre hatte er seine Wohnung in Montmartre, einem Schmelztiegel der Avantgarde und Musikszene, mit Stoffen von Sonia Delaunay ausstatten lassen. In der Ausstellung werden auch erstmalig bedeutende Arbeiten aus dem Archiv der Familie Perrier zu sehen sein, wie Textilzeichnungen und Möbel. Andere noch nie zuvor gezeigte Werke der Künstlerin aus dem Zeitraum 1913 bis 1972 reisen aus namhaften Sammlungen, wie denen der Bibliothèque nationale de France oder dem Pariser Modemuseum Palais Galliera nach Krefeld.

Dass mit Maison Sonia das Atelier Simultané in Haus Lange einzieht, hat für die Programmatik und die DNA der Kunstmuseen Krefeld eine zentrale Bedeutung: Sonia Delaunays Werk versinnbildlicht die Verknüpfung von freier und angewandter Kunst, die zum Zeitpunkt der Gründung des Hauses ein Kernanliegen war, als Krefeld den Status eines international bedeutenden Zentrums der Textilindustrie genoss. Haus Lange, gebaut von Ludwig Mies van der Rohe für den Vorstand der Vereinigten Seidenwebereien (Verseidag) Hermann Lange, ist eine Ikone des International Style. Heute erinnert es an die Beziehung zwischen moderner Kunst und Seidenindustrie und ist der ideale Schauplatz für das Werk einer Künstlerin, deren Kooperationen mit der Pariser und Lyoner Textilindustrie zu den fruchtbarsten Partnerschaften ihrer Karriere zählten.

Maison Sonia ist Teil der Ausstellungsreihe HLHE Dialog, bei der im Herbst 2022 unter dem Leitmotiv Abstraktion Leben Sonia Delaunay und Andrea Zittel miteinander in Bezug gesetzt werden. Laut Museumsdirektorin Katia Baudin, die die Duo-Ausstellung initiert hat, „dienen die benachbarten modernen Villen von Mies van der Rohe als idealer Schauplatz und Katalysator für die fruchtbare Begegnung von zwei visionären weiblichen künstlerischen Positionen, die danach streben, die Barrieren zwischen Kunst und Alltag zu überwinden, indem sie die Sprache der Abstraktion nutzen, um gesellschaftliche Veränderungen zu untersuchen und darauf zu reagieren."