Nach Ausstellungen zu Skulpturen aus Papier und aus Glas widmet sich die Kunsthalle Vogelmann einem weiteren Werkstoff im Grenzbereich des Skulpturalen. Kunst·Stoff zeigt die enorme Vielfalt textiler Kunstwerke, die von der Tapisserie über die Soft Sculpture bis zur raumgreifenden Installation reicht. Die Ausstellung vereint über 40 internationale Positionen von der Klassischen Moderne bis zur Gegenwart. Kontinuitäten und Entwicklungslinien, aber auch Brüche und Neuinterpretationen werden sichtbar.

Obgleich kein klassisches Material der Bildhauerei, sind Stoffe in der Kunst des 20. und 21. Jahrhunderts omnipräsent. Seien es zarte Tüllarrangements, filigrane Spitzenplastiken oder wuchtige Webobjekte: Textilien eröffnen Künstler*innen mannigfache und überraschende Gestaltungsmöglichkeiten und Ausdrucksformen, die das Kunstgewerbliche selbstbewusst einschließen und überkommenen Gattungen hinterfragen lassen.  Zugleich berührt Stoff wie kaum ein anderes Medium: Hier verbinden sich emotionales Erleben und persönliche Erfahrungen mit weitreichenden gesellschaftlichen Aspekten. Individuelle und kulturelle Identität kommen ebenso zum Tragen wie die komplexen ökonomischen Wechselwirkungen einer globalisierten Welt.

Themenbereiche der Ausstellung
Den historischen Ausgangspunkt der Ausstellung bilden Positionen der Klassischen Moderne, die den Bogen schlagen zwischen angewandter und freier Kunst. Bauhaus-Weberinnen wie Gunta Stölzl und Anni Albers, aber auch Sophie Taeuber-Arp und Sonia Delaunay setzten sich mit den Charakteristika von Material und Handwerk auseinander und entwickelten hieraus individuelle, ungegenständlich-geometrische Formensprachen auf Augenhöhe mit der Avantgarde der Zeit. Den endgültigen Schritt zum autonomen textilen Werk vollzogen in den 1960er und -70er Jahren die Künstler*innen der Fiber Art-Bewegung: Lenore Tawney, Sheila Hicks oder Magdalena Abakanowicz loteten das gestalterische Potenzial tradierter Techniken wie Weben und Knüpfen aus, um plastische Arbeiten von teils raumgreifenden Ausmaßen zu schaffen. 

Dass textile Handarbeit traditionell ‚weiblich‘ konnotiert ist, gab und gibt vor allem Künstlerinnen Anlass zu einer Aneignung unter feministischen Vorzeichen. Überkommene Rollenbilder der ebenso fleißig wie sittsam stickenden, häkelnden oder strickenden Frau werden etwa in den Werken Rosemarie Trockels oder Meret Oppenheims klischeehaft zugespitzt und zugleich geschickt unterlaufen.

Neben der Neuinterpretation tradierter Handwerkstechniken bietet die Materialität von Textilien per se breiten Raum für die künstlerische Auseinandersetzung: Den textilen Bildträger, in Gemälden meist unter zahlreichen Farbschichten verborgen, rücken Künstler*innen wie Sigmar Polke, Blinky Palermo oder die Gruppe Supports/Surfaces ins Zentrum der Aufmerksamkeit. In der Bildhauerei gibt die charakteristische Flexibilität von Stoffen Anlass zu einer Neubetrachtung grundlegender Aspekte plastischen Gestaltens. Form entsteht so einerseits durch Knoten, Falten und fixierende Eingriffe, wie etwa bei Simone Pheulpin oder Jens Risch. Andererseits geht sie aus dem Zusammenspiel des Materials und der Schwerkraft hervor, beispielweise bei Robert Morris oder Ulla von Brandenburg. Eine Sonderstellung innerhalb des plastischen Gestaltens mit Stoff nimmt die Soft Sculpture ein: Die Weichheit des Materials dient dabei der Verfremdung von gegenständlichen Darstellungen; wegweisend waren hier Claes Oldenburgs textile Nachbildungen von Alltagsobjekten. Wie sich das plastische Potenzial von Textil raumgreifend ausweiten lässt, zeigen installative Arbeiten Phyllida Barlows oder Ulrike Kessls.

Einen dritten Themenschwerpunkt bildet die künstlerische Beschäftigung mit den sozialen und kulturellen Bedeutungsdimensionen von Textilien. Künstler*innen wie Yinka Shonibare, Nevin Alada? oder Vincent Vulsma loten im Rückgriff auf lokal überlieferte textile Formen und Muster das Spannungsfeld zwischen Eigenem und Fremdem aus. Sie unterziehen Mechanismen von kultureller Aneignung und Transfer einer kritischen Betrachtung. Ein besonderes Augenmerk liegt dabei nicht zuletzt auf Kleidung. Als schützende Hülle und ‚Spur‘ des abwesenden Körpers sowie als sichtbarer Ausdruck der sozialen Rolle und Zugehörigkeit ist sie besonders reich konnotiert. Werke von Joseph Beuys über Michelangelo Pistoletto bis hin zu Marion Baruch offenbaren die vielfältigen Facetten von Kleidung in der Kunst.

Kunst·Stoff im öffentlichen Raum
Eigens für die Fassade der Kunsthalle Vogelmann schuf Katerina Nakou eine monumentale Webarbeit, welche die Thematik der Ausstellung weithin sichtbar nach außen trägt: Mit Interwoven ergründet die griechische Künstlerin die Zusammenhänge zwischen Schriftsprache, Webkunst und dem Coding genannten Programmieren von Computern. Sie überträgt den Zeichencodierungsstandard Unicode, der jedem Buchstaben des lateinischen Alphabets eine spezifische Abfolge von Nullen und Einsen zuweist, in die Weberei: Die 1 des Computercodes entspricht einem schwarzen Feld, die 0 einem weißen Abschnitt. Die Künstlerin ,schreibt‘ in verschlüsselter Form zentrale Begriffe textilen Gestaltens wie „nähen“, „sticken“, „stricken“, „knoten“, „reißen“ oder „falten“ in englischer Sprache in das Gewebe ein, sodass ein streng geometrisches, komplexes Muster entsteht. Eine zusätzliche konzeptionelle Ebene erschließt sich nach Einbruch der Dunkelheit. Statt schwarzer und weißer Rechtecke und Balken sind dann leuchtende Punkte in ebenso präziser Anordnung zu sehen. Nakou spielt damit an auf Lochkarten, die früher genutzt wurden, um automatisierte Webstühle zu betreiben. Tatsächlich hat hierin das binäre System des Coding seinen Ursprung – auch die ersten Computer funktionierten mittels Lochkarten. Die Automatisierung des Webens, einer uralten Handarbeitstechnik, ebnete so den Weg für die heutige Informationstechnologie. Interwoven fungiert als ein Syllabus der verschiedenen Arbeitsprozesse des textilen Gestaltens; ganz buchstäblich ist die Arbeit mit den weiteren Exponaten verwoben.   

In Kooperation mit der Kunsthalle Emden.