Die in „Digital Diaries“ vertretenen Künstler*innen schaffen mit ihren Arbeiten Raum für die eigenen intimen, in ihrem spezifischen sozialen Kontext auftretenden Erfahrungen: sei es in Form von Selbstporträts und Home-Videos oder durch das Veröffentlichen privater Nachrichten vom Handy oder aus Chatrooms. Mit diesen Arbeiten zeichnen sie ihren Alltag auf – wie profan oder alltäglich dieser auch immer zu sein scheint – und fordern ein, diese alltäglichen Beobachtungen in einen größeren, politischen Kontext zu setzen.
Sie reichen weit darüber hinaus, das Private einfach nur einer Öffentlichkeit anzuvertrauen, und eröffnen eine kritische Reflexion darüber, wie Formen der (medialen) Repräsentation mit Fragestellungen zu Identität und Gender verwoben sind. Entsprechend der Aussage der Theoretikerin Amelia Jones, dass „wir nicht wissen, wie wir noch leben sollen, ohne uns selbst als Bild vorzustellen“, widmet sich die Ausstellung den komplexen Zusammenhängen von Repräsentationstechnologien und aktuellen Spielformen von Subjektivität.
Viele der früheren künstlerischen Experimente mit privaten (Tagebuch-)Aufzeichnungen, die in der Ausstellung zu sehen sind, verfolgen einen unmittelbar feministischen Ansatz: Die entsprechenden Künstler*innen zeigen private Aspekte ihres Lebens und stellen dabei ihren Körper in den Mittelpunkt, paradigmatisch zu beobachten etwa in Hannah Wilkes Intercourse with… (1978). Wie haben Aufnahmetechnologien und bildgebende Verfahren unser Verständnis des Selbst geformt? Welchen Einfluss übt eine globale Bildkultur auf die Konstruktion von Identität aus und wie performen wir eben diese? Wilkes Videoarbeiten können für diesen performativen Aspekt, der sich in verschiedenen Formen des Video-Tagesbuch häufig wiederfindet, stellvertretend herangezogen werden. Im Verlauf der 1990er- und 2000er-Jahre, mit der Entstehung von Technologien zur Online-Kommunikation sowie dem Aufkommen der sozialen Medien, werden diese Entwicklungen weiter beschleunigt, wie sich an den Beiträgen von Sophie Calle, Kristin Lucas sowie Sarah Lucas in der Ausstellung ablesen lässt.
Angesichts der Allgegenwart, der Anziehungskraft sowie der Unzuverlässigkeit zeitgenössischer Bildkulturen, beschäftigen sich die Künstler*innen einer jüngeren Generation wie Martine Syms, Hannah Perry und Jota Mombaça mit dem bekenntnishaften Ton, der in den sozialen Medien vorherrscht. Sie untersuchen die Ambivalenzen, die dem beständigen Offenlegen der eigenen Wünsche und des eigenen Begehrens innewohnen und fragen nach der performativen Dimension der eigenen Identität.
Mombaça etwa beruft sich selbst auf Lyriker*innen wie John Berryman, Sylvia Plath und Anne Sexton, bezieht sich in What Has No Space is Everywhere (2021) auf die sogenannte Confessional Poetry und bedient sich dabei zugleich zeitgenössischer und informeller Formen des Schreibens wie etwa dem Direct Messaging via Instagram und Sprachnachrichten unter Freund*innen. Auf ähnliche Weise wie Wilkes und Calles „erweiterte Tagebücher“, in denen die Perspektive ihrer jeweiligen Liebhaber*innen berücksichtigt werden, verarbeiten Frances Stark und Rindon Johnson intensive emotionale Erfahrungen indem sie sich einer poetischen Sprache sowie Kommunikationsformen, wie sie in Online-Chats Verwendung finden, bedienen. Derartige Praktiken lassen sich in eine längere Film- und Videotradition einordnen, in der Briefe für eine „metonymische und metaphorische Verschiebung des Begehrens“ stehen, wie die Filmwissenschaftlerin Linda S. Kauffman schreibt. Alex Ayed, Ken Okiishi und Tromarama stellen das Digitale sowohl als Gegenstand wie als Werkzeug in den Mittelpunkt ihrer persönlichen (Tagebuch-)Aufzeichnungen, in der sich auch eine frühere Auseinandersetzung mit dem Alltäglichen und Banalen widerspiegelt, wie sie sich etwa in den Fotografien von Wolfgang Tillmans findet.
Lose inspiriert von der Confessional Poetry – von deren Rhythmus, Affekt und Ton – beschäftigt sich die Ausstellung mit der äußerst intimen Art und Weise, wie Künstler*innen verschiedener Generationen bildgebende Technologien einsetzen, um sich mit dem eigenen Selbst, ihren persönlichen Beziehungen und emotionalen Erfahrungen auseinanderzusetzen.
Als Genre entstand die Confessional Poetry in den 1950er- und 1960er-Jahren. Sie zeichnet sich durch eine direkte Ansprache sowie den Einsatz von Alltagssprache aus, oft thematisieren die Autor*innen damit ihr Leben in den gewalttätigen Realitäten patriarchaler Strukturen. Die Künstler*innen haben sich zudem nicht selten einer entsprechenden Poetik und Formen der Selbstoffenbarung bedient, um das Verhältnis zwischen Selbstdarstellung und narrativer Produktion zu hinterfragen, dabei werden häufig Text und Bild – Fotografie, Video und andere digitale Bilderzeugungstechnologien – kombiniert. Derartige Arbeiten fügen den Spielarten des Konfessionellen Neues hinzu, erweitern die Definition der verschiedenen Praxen der persönlichen (Tagebuch)-Aufzeichnungen ästhetisch und konzeptuell und verorten gelebte Erfahrungen letztlich in allgemeinen soziopolitischen Kontexten.
„Digital Diaries“ wird von einem Printmagazin begleitet. Die aus Anlass der Ausstellung produzierte Publikation versammelt Texte von internationalen Autor*innen, Künstler*innen und Theoretiker*innen und wird im Juli 2024 erscheinen.
KÜNSTLER*INNENLISTE
Alex Ayed, Sophie Calle, Rindon Johnson, Kristin Lucas, Sarah Lucas, Jota Mombaça, Ken Okiishi, Hannah Perry, Frances Stark, Martine Syms, Wolfgang Tillmans, Tromarama, Hannah Wilke
Öffnungszeiten:
Sonntag: 11:00 – 18:00 Uhr
Weitere Informationen direkt unter: jsfoundation.art