Die Kunst der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist durch große Widersprüche und eine enorme Vielfalt an Medien und künstlerischen Strategien bestimmt. Gleichzeitig stand kaum eine Ära so unter dem Zeichen von Teilung und Zerrissenheit wie auch einer weitreichenden Erneuerung: „Zerreißprobe. Kunst zwischen Politik und Gesellschaft“ heißt die Sammlungspräsentation der Neuen Nationalgalerie zur Kunst nach 1945 bis zur Jahrtausendwende. Sie zeigt 163 Werke von insgesamt 143 Künstler*innen.
Die Nachwirkungen von Holocaust und Krieg, die darauffolgende Aufbruchsstimmung, Emanzipationsbewegungen sowie der Kalte Krieg führten nach 1945 nicht nur zu Spannungen innerhalb der Gesellschaft, sondern auch zu fundamentalen Neuausrichtungen in der bildenden Kunst. Titelgebend für die Sammlungspräsentation ist die radikale Performance des Wiener Aktionisten Günter Brus aus dem Jahr 1970, in der er sich bis an seine körperlichen Grenzen dem Zug von Stahlseilen aussetzte. Brus verwies dabei ausdrücklich auf die starken Spannungen zwischen Gesellschaft, Politik und Kunst. Der Begriff „Zerreißprobe“ steht übergreifend für die radikalen Auf- und Umbrüche in der Kunst nach 1945. Die Ausstellung spiegelt das Zeitalter des Kalten Krieges wider mit seinen ideologischen Konfrontationen zwischen Ost und West, zwischen traditionellen Kunstgattungen und neuen künstlerischen Techniken und Medien. 14 Kapitel greifen zentrale künstlerische wie gesellschaftliche Themen des 20. Jahrhunderts auf, etwa die Frage nach Realismus und Abstraktion, Politik und Gesellschaft, Alltag und Pop, Feminismus, Identität oder Natur und Ökologie, das Prozesshafte und Performative.
Zu sehen sind unter anderem lange nicht mehr gezeigte Hauptwerke der Sammlung der Nationalgalerie, wie Barnett Newmans „Wer hat Angst vor Rot, Gelb und Blau IV (1969/70) oder Francis Bacons „Porträt der Isabel Rawsthorne in einer Straße in Soho stehend“ (1967). Zugleich erweitert die Ausstellung den Blick auf die bewegte Nachkriegsära mit Arbeiten von Judit Reigl oder Bernadette Bour, die bislang nicht zum kunsthistorischen Kanon gehörten und bisher kaum wahrgenommen wurden. Gezeigt werden Gemälde, Objekte, Fotografien und Videoarbeiten aus der Bundesrepublik und der DDR, Westeuropa und den USA sowie aus den damaligen sozialistischen Staaten. Kunstwerke aus Ost- und West erscheinen nicht getrennt voneinander, sondern sind zusammen ausgestellt. Zu sehen sind Werke des Informel, der US-amerikanischen Farbfeldmalerei, des Realismus der 1970er-Jahre, der Pop- und Minimal Art ebenso wie der Konzeptkunst von Künstler*innen wie Marina Abramovic, Francis Bacon, Lee Bontecou, Rebecca Horn, Valie Export, Wolfgang Mattheuer, Louise Nevelson, Bridget Riley, Pippilotti Rist, Carolee Schneemann oder Andy Warhol. Das Ziel ist ein aktualisierter Blick auf die Sammlung, wobei ein besonderer Schwerpunkt auf den künstlerischen Entwicklungen in Osteuropaliegt. Neben Werken aus der DDR wird auch Kunst aus Polen oder der ehemaligen Sowjetunion gezeigt. Dank zentraler Leihgaben von Künstlerinnen wie Kiki Kogelnik, Maria Lassnig, Ewa Partum oder Cornelia Schleime konnte zudem der Anteil an Künstlerinnen in der Ausstellung auf 25 Prozent erhöht werden – eine Steigerung von über 50 Prozent, gemessen am bisherigen Anteil in der Sammlung der Nationalgalerie. Diese verstärkte Einbeziehung von Künstlerinnen ermöglicht einen vielschichtigeren Zugang zur Kunst der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Es ist ein großes Anliegen, diese Leihgaben durch Erwerb langfristig für die Nationalgalerie zu sichern.
„Zerreißprobe. Kunst zwischen Politik und Gesellschaft“ zielt auf eine Erweiterung der Kunstgeschichte, auf eine Erzählung der Kunst, die auch vermeintliche Nebenwege berücksichtigt. So trifft beispielsweise im Raum „Abstraktion / Figuration“ ein Gemälde von Judit Reigl (1923-2020), einer ungarisch-französischen Vertreterin des Informel, auf Werke der USamerikanischen Maler Adolph Gottlieb (1903-1974) und Morris Louis (1912-1962). Eine frühe, halb figurative, halb abstrakte Arbeit der österreichischen Künstlerin Maria Lassnig (1919-2014) hängt neben einem späten Akt von Pablo Picasso (1883-1973) und einer Skulptur von Henry Moore (1898-1986). Die offen angelegte Bildhauerei der Serbin Olga Jevric (1922-2014) steht im Dialog mit einer Skulptur von Karl Hartung (1908-1967) und den Gemälden von Willi Baumeister (1889-1955) und K.O. Götz (1914-2017).
Die aktuelle Ausstellung kann nur einen kleinen Ausschnitt der umfangreichen Sammlung der Nationalgalerie zeigen. Diese ist stark von den historischen Bedingungen im geteilten Deutschland geprägt. In ihr zeigen sich nicht nur die unterschiedlichen Kunstvorstellungen und politischen Wertesysteme, die sich nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs international herausbildeten, sie macht gleichzeitig auch die Geschichte einer sowohl im Osten als auch im Westen Deutschlands bestehenden Institution sichtbar. In der seit Anfang der 1990er-Jahre vereinigten Sammlungen beider Nationalgalerien spiegeln sich wie nirgendwo sonst die Kunst- und Kulturgeschichte der jeweiligen deutschen Staaten im internationalen Zusammenhang. Die Ausstellung setzt die Sammlungspräsentation „Die Kunst der Gesellschaft 1900-1945“ (22.8.2021-24.9.2023) zur ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts fort, die das klassische Narrativ der Kunstgeschichte der Moderne im Kontext der politischen, historischen und gesellschaftlichen Phänomene hinterfragte.
Die Ausstellung „Zerreißprobe. Kunst zwischen Politik und Gesellschaft“ greift aus heutiger Sicht relevante Fragen zur Kunst der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts auf. Für die Auswahl der Werke war auch die Möglichkeit, sie aus zeitgenössischer Perspektive zu betrachten ausschlaggebend. Insgesamt zeigt die aktuelle Präsentation nur einen kleinen Ausschnitt der Sammlung der Nationalgalerie zur Kunst nach 1945. Weitere Konvolute sind im Hamburger Bahnhof – Nationalgalerie der Gegenwart zu sehen, so ab Frühjahr 2024 der Bestand zu Joseph Beuys. Umfangreicher wird der Gesamtbestand erst mit der Eröffnung des Neubaus der Nationalgalerie präsentiert werden können.
Die Präsentation ist auch an das Langzeitprojekt der Erforschung der Bestände nach 1945 gekoppelt, das großzügig von der Ernst von Siemens Kunststiftung gefördert wird. QR-Codes auf den Werkbeschriftungen verweisen auf Texte der Online-Datenbank, die fortlaufend aktualisiert und erweitert wird. Grundsätzlich berücksichtigt die Auszeichnung der Werke auch die Erwerbungsgeschichte, die stark von der wechselhaften Geschichte der Nationalgalerie gekennzeichnet ist.
Im Vermittlungsraum „Testing out/Testing us“ setzen sich Besuchende mit Spannungsfeldern und Zerrissenheit in Kunst, Gesellschaft und Privatleben auseinander. Als offener Ort zum Aufhalten, Mitmachen, Lesen und Entspannen lädt der Raum Familien, Jugendliche und Erwachsene generationsübergreifend dazu ein, aktiv zu werden, eigene Erfahrungen zu teilen und sich mit der Ausstellung auseinanderzusetzen. Der Vermittlungsautomat „ME DEATION EX MACHINA: Automatisiert - kritisch kreative Impulse zur Kunst“ liefert Postkarten, die spielerisch neue Blickwinkel auf die Sammlung eröffnen. Unter der Rubrik „Du und das Kunstwerk“ wird man etwa aufgefordert ein passendes Kunstwerk zum eigenen Lieblingssong zu finden. Ein kostenloser Audiowalk für Familien und Erwachsene bietet einen ungewöhnlichen Ausstellungsrundgang mit historischen Aufnahmen, Soundcollagen, (Straßen-) Interviews und akustischen Interventionen. Gesprochen unter anderen von Imogen Kogge. Mehr Informationen zum Programm der Bildung und Vermittlung mit Führungen, Ausstellungsgesprächen, Ask Me!-Formaten, Fortbildungen für Lehrer*innen, Workshops für Familien und Schule auf der Webseite unter www.smb.museum/nng.
Zur Ausstellung erscheint im Dezember 2023 ein Katalog herausgegeben und mit einer Einführung von Joachim Jäger, Maike Steinkamp und Marta Smoliska im E.A. Seemann Verlag. Ausgabe auf Deutsch und Englisch, 340 Seiten, 240 Abbildungen (ISBN: 978-3-86502-514-2); Museumsausgabe: 32 Euro; Buchhandelsausgabe: 36 Euro.
Öffnungszeiten:
Dienstag – Mittwoch: 10:00 . 18 00 Uhr
Donnerstag: 10:00 - 20:00 Uhr
Freitag - Sonntag: 10:00 - 18:00 Uhr
Montag: geschlossen
Weitere Informationen direkt unter: smb.museum