Leicht zur Seite geneigt blickt ein junger Mann mit Anmut in die Kamera, auf den markanten Wangenknochen schimmert zart das Rouge, die Lippen glänzen in einem verführerischen Rot, während über der Augenpartie zart hellblauer Lidschatten glänzt. Sanft berühren seine Finger mit rosa lackierten Nägeln die rechte Wange des Halbporträts, am kleinen Finger steckt prominent ein Ring. Oder ist es nicht doch das vermeintliche Abbild einer Frau? Können wir anhand geschlechtsspezifischer visueller Codes überhaupt entscheiden, welche Identität eine Person hat?

In drei komplementären Ausstellungen untersucht C/O Berlin mit Queerness in Photography die fotografische Darstellung von Identität, Geschlecht und Sexualität: von historischem Bildmaterial, das den Akt des Fotografierens als Akt der Identitätsfindung zeigt, über einen einzigartigen Safe Space in der Fotografiegeschichte bis hin zu zeitgenössischen Ausdrucksformen von Geschlechterfluidität, welche die Frage aufwerfen, ob sozial konstruierte Geschlechter heutzutage überhaupt noch zeitgemäß sind. Denn seit ihrer Erfindung im Jahr 1839 hat Fotografie Menschen nicht nur abgebildet, sondern auch ihre gesellschaftspolitische Position maßgeblich geprägt, indem die Fotografie Personen aufgrund von physischen Merkmalen, Verhalten oder Kleidung visuell kategorisiert hat. Durch das Einschreiben von konstruierten Geschlechterrollen wurde sie auch zum Medium der Stigmatisierung und Diskriminierung. Genauso wie sich der aktuelle Diskurs über die Rechte der LGBTQIA+-Community weltweit kontinuierlich weiterentwickelt, Begrifflichkeiten und Themen fortlaufend neu ausgehandelt werden, so hat sich auch das fotografische Vokabular zur visuellen Abbildung von Queerness vervielfältigt. Die drei Ausstellungen zu Queerness in Photography offenbaren ein vielschichtiges Panorama und zeigen, dass Fotografie auch ein Akt der Befreiung und Selbstermächtigung sein kann. Indem die eigene Identität visualisiert oder der gemeinschaftliche Zusammenhalt in der queeren Community dokumentiert wird, entstehen neue künstlerische Formen von Repräsentation.

C/O Berlin zeigt mit Under Cover . A Secret History of Cross-Dressers . Sébastien Lifshitz Collection die von dem französischen Filmemacher Sébastien Lifshitz über mehrere Jahrzehnte zusammengetragene Sammlung von Amateurfotografien. Seit den 1860er-Jahren nutzten Menschen das Medium, um ihre durch Kleidung oder physische Merkmale zugeschriebene Geschlechtsidentität zu be- und hinterfragen. Ohne die jeweiligen Entstehungsgeschichten oder persönlichen Beweggründe zu kennen, wird in diesen Darstellungen der Wunsch der Porträtierten deutlich, sich selbst vor der Kamera zu erforschen: neben dem Aufbegehren gegenüber aufgezwungenen, gesellschaftlichen Erwartungen und politischen Regulierungen machen sie sich im fotografisch produzierten Selbstbildnis der eigenen Identität bewusst.

Unterteilt in mehrere Kapitel umspannt die Sammlung Lifshitz nicht nur 120 Jahre von queeren Darstellungsformen, sondern verortet weltweite Phänomene wie das Cross-Dressing kulturgeschichtlich in den darstellenden Künsten wie beispielsweise Theater oder Cabaret. Neben androgynen Personen in Anzügen, den frühen Wegbereiter:innen von RuPauls extravaganten Drag Queens oder Frauen, die andere Frauen in nachgespielten Hochzeiten (mock weddings) heiraten, befinden sich in Under Cover . A Secret History of Cross-Dressers . Sébastien Lifshitz Collection eine Vielzahl von visuellen Repräsentationsformen für Feminismus, LGBTQIA+-Rechte, Transidentität und der Liberalisierung von Sexualität. Dadurch wird in dem historischen Bildmaterial zugleich visuell der gesellschaftliche Fortschritt vorweggenommen, der nur deshalb erreicht wurde, weil Menschen sich non-konform verhalten oder den binären Zuschreibungen von Geschlechterkonventionen getrotzt haben. Die visuellen Zeugnisse der Sammlung Lifshitz gehören somit zu den bedeutsameren Entdeckungen der jüngeren Fotografiegeschichte, die eine Leerstelle im kulturellen Gedächtnis füllt.

Mit Casa Susanna . Cindy Sherman Collection präsentiert die wohl berühmteste Verkleidungskünstlerin der Welt Originalbilder der Casa Susanna aus ihrer eigenen Sammlung. „Ich habe die Casa Susanna-Fotos in einem Sammelalbum gefunden, das vor etwa 17 Jahren auf einem Antiquitätenflohmarkt in New York City verkauft wurde. Das Sammelalbum selbst war es nicht wert, gerettet zu werden, aber die Fotos haben mich begeistert“, erklärt Sherman über ihre historische Entdeckung. Casa Susanna war in den 1950er- und 1960er-Jahren ein Safe Space für CrossDresser:innen und trans Frauen in Hunter, New York. Innerhalb dieser kleinen Community konnten die Mitglieder gemeinsam ihre Identität erforschen – zu einer Zeit, in der Lebensentwürfe, Sexualität und Geschlecht abseits heteronormativer Vorstellungen und Konventionen stigmatisiert oder sogar strafrechtlich verfolgt wurden. Der Akt des Fotografierens innerhalb dieser Community war von höchster sozialer Explosivität, da die Mitglieder visuell dokumentierten, was zu dieser Zeit nicht sein durfte: ein Leben außerhalb sozial konstruierter Geschlechterrollen sowie eine auf den eigenen Bedürfnissen basierende Persönlichkeitsentwicklung. Dabei offenbart die Bilderwelt der Casa Susanna nicht nur den Zusammenhalt und die Solidarität innerhalb dieser Community, sondern es wird eine in die Bilder eingeschriebene Unbeschwertheit und Fröhlichkeit spürbar, die gerade deshalb entstand, da sich Menschen dort frei entfalten konnten.

Zugleich besitzen diese visuellen Spuren der Casa Susanna – aufgrund einer jahrzehntelangen, gesellschaftlichen Tabuisierung von Themen wie Transidentität, Sexualität und Cross-Dressing – weiterhin einen rätselhaften Charakter, da die Protagonist:innen und Urheber:innen nicht mehr über ihre Intentionen selbst Zeug:innenschaft ablegen können.

Vielmehr konfrontieren diese Bilder uns heutzutage mit Fragen über Sexualität und Identität: Ist ein Mann in Frauenkleidern schwul? Wann wird eine Frau in einer Fotografie zu einer Frau? Und wer entscheidet über die Kriterien? Wir als Betrachtende? Im Zusammenspiel mit der Sammlung Lifshitz entsteht somit bei C/O Berlin ein queeres Bildarchiv, das aufgrund seiner Einmaligkeit und eines identitätsstiftenden Charakters auch von zukünftigen Generationen aufbewahrt und wertgeschätzt werden muss.

1992 spielte die Schauspielerin Tilda Swinton in dem preisgekrönten Film Orlando (Regie Sally Potter), der auf dem gleichnamigen Roman von Virginia Woolf aus dem Jahr 1928 basiert, die Gender-nonkonforme Hauptrolle. Woolfs Romanvorlage erzählt die Geschichte einer jungen adligen Person, die Jahrhunderte lang lebt. Ohne zu altern, ist es der Romanfigur möglich, auf geheimnisvolle Weise das Geschlecht zu verändern. „Ich sehe Orlando als eine Geschichte über das Leben eines Menschen, der danach strebt, sich vollständig von den Konstruktionen des Geschlechts oder sozialer Normen zu befreien,“ beschreibt Swinton die Thematik. Ihre Androgynität in dem Film trug zu ihrem Image als eine der wandlungsfähigsten Schauspieler:innen ihrer Generation bei und etablierte sie endgültig als Ikone in der LGBTQIA+-Community. Hinter der Folie der Buch- und Filmvorlage hat Swinton im Auftrag des Magazins Aperture für C/O Berlin die Ausstellung Orlando zusammengestellt. Geschlechterfluidität und die Idee eines grenzenlosen Bewusstseins verweben sich hier auf eine neue Art innerhalb der Ausstellung.

Die zum Teil eigens für Orlando . Curated by Tilda Swinton konzipierten Arbeiten präsentieren unterschiedliche Blickrichtungen auf Fragen von Identität, Geschlecht, Herkunft und Sexualität. In der Vielfalt der künstlerischen Ansätze und Perspektiven werden gängige Vorstellungen, Darstellungsformen und Machtverhältnisse aufgebrochen. Durch die Auswahl der Künstler:innen, ihrer künstlerischen Neuinterpretation der Themen sowie der identitätsstiftenden Konstruktion von neuen Narrativen bekommen bisher häufig marginalisierte oder unterrepräsentierte Sichtweisen eine Bühne. Die visuelle Reflektion von menschlicher Existenz in ihrer Vielfalt ist zugleich ein inspirierendes Plädoyer für Unvoreingenommenheit, Empathie und Toleranz in der künstlerischen Fotografie der Gegenwart.

Die Ausstellung zeigt die Arbeiten der Künstler:innen: Zackary Drucker, Lynn Hershman Leeson, Paul Mpagi Sepuya, Jamal Nxedlana, Elle Pérez, Walter Pfeiffer, Sally Potter, Viviane Sassen, Collier Schorr, Mickalene Thomas und Carmen Winant.