„Ich begann wieder, mitten in der Nacht aufzuwachen. Mit dem gleichen seltsamen Gefühl, dass ich mich von meinem physischen Körper distanzierte. In dieser Nacht wachte ich um 3 Uhr morgens auf. Ich ging ins Badezimmer, das Licht war noch aus, ich ließ kaltes Wasser laufen und stützte mich auf meine Ellbogen, um in den dunklen Abfluss zu starren. Es hatte etwas Unendliches und seltsam Anziehendes an sich, und ich stand da, fasziniert wie Mary MacLane. Mein Geist floss mit dem Wasser, das mit Schallgeschwindigkeit durch die Rohre und Kanäle strömte. Das gesamte System war – wie ein Kapillarnetz – Teil eines größeren Körpers, den ich durch ein Loch in meinem Waschbecken beobachtete.” – Keta Gavasheli (The Bones of February, in: WORMHOLE Newspaper, Nr. 3, Juni 2021) 

So beschreibt Künstler:in Keta Gavasheli (sie/deren) ein Schlüsselerlebnis aus dem Winter 2020, das den Beginn der künstlerischen Auseinandersetzung mit dem Motiv der Öffnung markiert. Gavasheli deutet es als Symbol der symbiotischen Verflechtung allen Lebens auf Erden. In dieser Schilderung werden Bezüge zu Daisy Hildyards Essay The Second Body (2017) deutlich. Darin entwickelt Hildyard die Theorie, dass alle Lebewesen über zwei Körper verfügen: einen physischen (ersten) Körper, der gleichzeitig (als zweiter Körper) in ein globales Netzwerk eingebettet ist und durch sein Handeln in einem größeren Kontext auf beispielsweise Ökosysteme einwirkt. Dieser metaphysische zweite Körper vermag es ebenso – etwa durch Naturkatastrophen, Artensterben etc. – auf den ersten Körper einzuwirken. So steht am Ende der Second Body-Theorie die Auflösungen der Grenzen zwischen Mensch, Tier und Natur. Diese fungieren demnach nicht als autonome Einheiten, sondern bilden ein komplexes, sich wechselseitig bedingendes System. 

In diesem Kontext lassen die getrockneten Blumen, die den Boden des Ausstellungsraums säumen, an ein zeitgenössisches, fast apokalyptisches Memento Mori denken. Still ruft es den Betrachter:innen zu: The Party is over! Inmitten dieses Szenarios begegnen Besucher:innen mit Undefined Shores einer dreigliedrigen Leinwand: Im zentralen Segment hat Gavasheli einen 3-D gedruckten Wachsguss eines Abflussloches eingesetzt, das den Übergang zwischen dem Sichtbaren sowie Unsichtbaren markiert und gleichzeitig eine direkte Referenz an die eingangs beschriebene Erinnerung der Künstler:in darstellt. Die in lasierten Rottönen gehaltenen Leinwände wecken darüber hinaus Assoziationen an eine vernarbte und blutende Landschaft, die aus der Vogelperspektive erfahren wird. Dadurch wirkt das Abflussloch fast wie eine in die Landschaft hineingeschnittene Wunde, die sich nicht mehr schließen kann. Hier unterstreicht Gavasheli die Rolle der Erde, der Umwelt als lebendiger Organismus. Damit verknüpft wirft Gavasheli eine essentielle Frage auf: Wie gehen wir mit unserem zweiten Körper um? 

Die Leinwandarbeit steht in direktem Zusammenhang mit UNTITLED, einem Gullideckel. Silbrig glänzend erscheint er in Form und Farbe auf den ersten Blick wie ein vertrautes Objekt. Erst bei genauerem Hinschauen befremdet die Oberflächenbeschaffenheit. Als Irritationsmoment fungiert auch die integrierte Soundarbeit, Song of Wholes: Die Tonschleife beginnt mit einer nuklearen Explosion und wird angereichert durch künstlich geschaffene Geräusche. Letztere wurden mit gefundenen Materialien aus Georgien erzeugt. Immer wieder unterbrochen, zeigen sich akustische Leerstellen – wie Löcher – womit dem Ausstellungsthema auch formal Rechnung getragen wird. Der Gullideckel vermag es den Weg in eine andere Welt, die Unterwelt, zu öffnen mit all ihren in sich verbundenen Gängen, Schächten und Bunkern. Gullideckel sind laut Gavasheli wie Wurmlöcher, die das Private mit der öffentlichen Sphäre verbinden: etwa, wenn sich das Abflussloch im eigenen Waschbecken mit der Kanalisation verbindet. Sie sind Fenster zum Verborgenen und verweisen auf etwas Unbekanntes, das als ökologisches Unterbewusstsein interpretiert werden kann. 

Auch der Rostverlauf bei Tear Stains under Ghost will als Memento Mori begriffen werden und auf den Verfall von Zivilisation hindeutet. In diesem Sinne mutet der Rost fast gespenstisch an, wenn er sich über die Aluminiumplatte ausbreitet, während die aufgesetzten Pfoten an Hunde oder Katzen denken lassen. Tierpfoten sind im Werk von Gavasheli ein bedeutsames und wiederkehrendes Motiv. Sie verdeutlichen die Domestizierung als auch die Eigenständigkeit von Lebewesen. Wie in Donna Haraways The Companion Species Manifesto (2003) zeigt Gavasheli in der Zusammenführung von durch Menschenhand geschaffenem Aluminium mit der Motivik der Tierpfoten, die signifikante Andersartigkeit der Arten auf. Im selben Augenblick aber vereint sie diese vermeintlichen Gegensätze und führt damit die Hybridität von Kultur und Natur vor Augen. Gepaart mit dem Aufgreifen der Second Body-Theorie und der philosophischen Auseinandersetzung mit der Bedeutung von Löchern als Metapher, führt Keta Gavasheli ein komplexes Gefüge vor Augen, das Fragen an die Gegenwart und unseren Umgang mit der Welt stellt.   

Keta Gavasheli (*1990 in Tiflis, Georgien) lebt und arbeitet in Düsseldorf. Nach ihrem Architekturstudium an der Staatlichen Akademie der Künste Tiflis zieht Gavasheli nach Deutschland. Seit 2018 studiert sie an der Kunstakademie Düsseldorf bei Dominique Gonzales-Foerster und Ellen Gallagher. Ihre Arbeiten wurden u.a. in Gruppenausstellungen im Stadtmuseum Düsseldorf, Mouches Volantes in Köln oder dem Goethebunker Essen gezeigt. Darüber hinaus erhielt sie 2021 das Reisestipendium des Kunstvereins für die Rheinlande und Westfalen, Düsseldorf und 2022 das Deutschlandstipendium.