Als documenta-Künstler hat der deutsche Maler Ernst Wilhelm Nay (1902—1968) nach dem Zweiten Weltkrieg internationale Bekanntheit erlangt. In seiner eigenständigen Bildsprache jedoch überführt Nay die Epoche des figürlichen Expressionismus der Klassischen Moderne in die gestische Abstraktion der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. 

Das Museum Wiesbaden präsentiert den bedeutenden Künstler erstmals in seiner Museumsgeschichte in einer Einzelausstellung, die Nays breites Schaffen vorstellt. Zu sehen sind nicht nur die berühmten Lofoten-, Scheiben- oder Augenbilder, sondern auch die in der Rhein-Main-Region entstandenen Hekate- und Fugalen Bilder. In der Retrospektive werden diese, sonst in sich geschlossen wahrgenommenen Schaffensperioden als ein organisches, ineinander übergehendes Gesamtwerk erfahrbar gemacht.

Die Kräfte der Natur
Dünenbilder, Fischerbilder und Lofotenbilder

Um 1932 wollte Nay in seiner Kunst den kosmischen Zusammenhängen zwischen dem Menschen und der Natur — er selbst sprach hierbei von »mythischer Bindung« — hinter der äußeren Erscheinung der Dinge nachspüren.Den Anfang machten einige abstrahierte Tierbilder, in welchen er beispielsweise eine Kuh, ein Kälbchen oder einen Elchkopf durch ein netzartiges System aus Flächen und Linien mit ihrer natürlichen Umgebung zu verbinden suchte. Als er um 1935 an der Ostsee dem ursprünglichen Leben der Fischer begegnete, rückte zunehmend der Mensch ins Zentrum seiner Kunst.

Dessen Eingebundensein in die Dynamik von Himmel und Erde, von Sturm und Meer drückte Nay mit dem kraftvollen Rhythmus der Farben aus. Die Bedeutung der Farben für seine Malerei wuchs immer mehr — aus ihnen ergaben sich erst die Formen. Schon 1930, während eines Bornholm-Aufenthaltes im Fischerdorf Teju, mag ihm die Archaik des Lebens am Meer — die Verwobenheit von Himmel, Ozean, Erde und Menschauf einer allgemeingültigen Ebene — als Lösung aufgeblitzt sein.

Die Unterstützung durch den Lübecker Museumsdirektor Carl Georg Heise und den Maler Edvard Munch ermöglichten ihm 1937 eine erste Reise zu den norwegischen Lofoten-Inseln. Hier erlebte Nay mehr denn je die Verflechtung des Menschen mit der Natur. In seinen Bildern vereinfachte er dessen Gestalt fast zu einem Zeichen aus Farbe: Es geht in den kristallinen Formen der felsigen Umgebung auf und verwächst mit ihr zu einem großen Ganzen.

Krieg und Frieden
Frankreich- und Hekate-Bilder

Im Dezember 1939 begann für Nay der Kriegsdienst. Als Soldat zunächst in Schwerin (an der Warthe) und anschließend in Südfrankreich stationiert, konnte er selten künstlerisch arbeiten;
erst ab 1942 in Le Mans gewann er mehr Freiheit.

Er knüpfte deutsche und französische Kontakte, auch zu dem Kunstfreund Pierre Térouanne. Dieser überließ ihm sein Atelier und versorgte ihn mit Malmaterial: Die hier geschaffenen Arbeiten — ein verwunschener Garten, eine gemeinschaftliche Apfelernte oder einträchtige Familie — wirken im ersten Moment verstörend idyllisch, tragen aber in ihrer Fragilität der kristallin wirkenden Formensprache und blitzenden Farbkontrasten stets die Vergänglichkeit dieses doch nur vordergründigen Paradieses in sich.

Im Mai 1945 aus der Armee entlassen, zog sich Nay nach Hofheim am Taunus zurück, wo ihm seine Freundin Hanna Bekker vom Rath ein Atelierhaus vermittelte. Er trug die Farben jetzt dick und mit bewegtem Pinselstrich auf und verlieh seinen Darstellungen somit große Lebendigkeit. 
Anregungen dafür fand er in der Bibel und in den Mythen der griechischen Antike. In den geheimnisvollen Hekate-Bildern (benannt nach der Göttin der Magie) zeigte er Situationen von Verwandlung sowie ein idyllisches Dasein in der Natur. Das ruhige Hofheim, wo Nay sechs Jahre bis 1951 außerordentlich produktiv gewesen ist, nach den Schrecknissen des Krieges der ideale Ort: „Ich habe das ganz Häuschen für mich, es liegt oberhalb des kleinen Städtchens mit weitem Blick über die Mainebene zum Odenwald hin“, schrieb er einem Freund. Und weiter: „Sie werden sagen, es mag da noch so etwas wie [ein] Paradies bestehen.“

Melodik der Farben
Fugale und Rhythmische Bilder

Nay fand Anregung in der Fuge, einer Kompositionsform der Musik, in der verschiedene Stimmenzeitlich versetzt und doch gemeinsam erklingen: Durch ein Verschleifen, Wiederholen oder Umkehren von Farbflächen erzeugte er in seinen Bildern dynamische Bänder und rhythmische Schwünge. Sie kreisen häufig um schwarze Punkte und erzeugen optisch eine Bewegung. Der Bildinhalt ist kaum noch zu erfassen, und doch sind letzte Erinnerungen an Figuren vorhanden.

1951 zog Nay nach Köln. Die Lebendigkeit der Großstadt schlug sich in den „Rhythmischen Bildern“ nieder, seinen ersten völlig abstrakten Werken.

Das Spiel aus Form, Linie und Farbe erschien nun freier, noch dynamischer — inspiriert durch Werke der Neuen Musik. Zeitweise wurden die vormals strengen Konturen unscharf und fransten aus, was in der Wirkung — etwa in Bilder wie „Glanz vom grünen Feuer“ oder „Orange merkurisch“ — beinahe einem All-Over gleichkommt, doch kehrte Nay bald wieder zu einer planvolleren Methodik zurück. 

„Farbe ist für mich Gestaltwert. Ich gebe der Farbe nicht nur den Vorrang vor anderen bildnerischen Mitteln, sondern das gesamte bildnerische Tun meiner Kunst ist allein von der farbigen Gestaltung her bestimmt.“ Ernst Wilhelm Nay, 1952

Im Herbst 1953 übernahm er auch eine dreimonatige Lehrtätigkeit an der Landeskunstschule Hamburg: Hatte der Maler zunächst nur für sich selbst Grundsätze des Arbeitens formuliert, legte er diese nun seiner Lehre zugrunde. 1955 erschien seine kunsttheoretische Schrift „Vom Gestaltwert der Farbe“.

Mit den „Hekate-Bildern“ hatte Ernst Wilhelm Nay eine wichtige Grundlage für sein weiteres Arbeiten gelegt. Doch überdachte er schon wenige Jahre später seine Bildmittel erneut. In den seit 1949 entstehenden „Fugalen Bildern“ wurde die kleinteilige, dicht und pastos ausgeführte Malerei nun großzügiger, konturierter und gewann an Flächigkeit.

Abstraktion und Inhaltlichkeit
Scheibenbilder, Augenbilder und Späte Bilder

Alle Wissenschaften faszinierten Nay, besonders die Mathematik und die Physik. Albert Einstein
hatte nachgewiesen, dass Raum, Zeit und Materie keine festen, sondern veränderliche Größen waren. Es gab nun keine einzige, richtige Sicht auf die Welt mehr, sondern viele mögliche Standpunkte. Zudem wollte Nay auch räumliche Verhältnisse darstellen und dabei entdeckte er für sich das Motiv der Scheibe. 

In den 1950er-Jahren entwarf er zahlreiche, an den Weltraum erinnernde Bilder aus übereinanderliegenden Scheiben. Kontraste von dunklen-hellen oder warmen-kalten Farben versetzten sie optisch in Schwingung. Sie schienen zu wirbeln, sich aufzulösen oder über die Ränder hinaus zu drängen. Nay legte Schraffuren und spitze Ovale über seine Kreise und entwickelte 1963/64 Bilder, in denen riesige Augen wie magische Zeichen wirken. Drei dieser Werke wurden 1964 auf der »documenta III« in Kassel an der Decke platziert und entfachten eine große Diskussion um die generelle Inhaltlichkeit seiner Werke. 

Heute steht außer Frage, dass Nay, obwohl viele Bilder gegenstandslos erscheinen, stets den Menschen und dessen Stellung im Universum in seiner vielschichten Kunst mitgedacht hat.Von 1965 an vereinfachte Nay seine Malerei noch mehr: Aus wenigen intensiven Farben und
gebogenen Formen entwickelte er Bilder mit zumeist senkrecht verlaufenden Elementen. Auch sie wirken zunächst gegenstandsfrei, erinnern aber doch nicht selten an Körper, Glieder, Hände oder Augen. 

Bis zuletzt hielt Nay seine Kunst in der Schwebe zwischen Figur und Abstraktion.

Ausstellungsansichten. Fotos: Museum Wiesbaden / Bernd Fickert
16.09.2022 - 05.02.2023

Ernst Wilhelm Nay. Retrospektive

Museum Wiesbaden

Friedrich-Ebert-Allee 2
65185 Wiesbaden