Berlinde De Bruyckere (*1964, lebt und arbeitet in Gent, Belgien) gehört zu den bedeutendsten internationalen Bildhauer*innen der Gegenwart. Faszinierend und zugleich aufwühlend sind die Skulpturen der Künstlerin. Sie gehen den Betrachter*innen sprichwörtlich »unter die Haut«. So kommt mit Berlinde De Bruyckere nicht nur eine einzigartige Künstlerin ins Arp Museum Bahnhof Rolandseck, sondern auch eine Ausstellung, die wie keine andere die empathische Auseinandersetzung mit der gezeigten Kunst fordert. »Berlinde De Bruyckeres aufwühlende Skulpturen machen es uns nicht leicht, angemessene Worte für ihr Werk zu finden. Verletzlichkeit und Vergänglichkeit als konstituierende Merkmale allen kreatürlichen Seins sind das Zentrum, um welches ihre Arbeiten kreisen. Schönheit und Vergänglichkeit bilden dabei eine Einheit. Die Skulpturen Berlinde De Bruyckeres legen Zeugnis ab vom Leiden in der Welt. Die große ästhetische Kraft der Werke entsteht aus den Transformationsprozessen, die sie sehr detailliert abbildet.«, erklärt die Kommissarische Leiterin des Arp Museums Bahnhof Rolandseck, Petra Spielmann.

»Die Kunst Berlinde De Bruyckeres steht für einen sensiblen Blick auf menschliche Erfahrungen, die Unaussprechliches in den Bereich des Sichtbaren rückt. Es ist eine besondere Art von Aufmerksamkeit, die die Künstlerin dem Leben von Menschen und Tieren und all dem, was das Leben bedeutet, entgegenbringt. Diese hingebungsvolle Aufmerksamkeit sollte man sich zum Beispiel nehmen. Auf diese Weise kann man die Welt und die Kunst auf eine ganz neue Art betrachten, geprägt von Verständnis und Mitgefühl.«, beschreibt Andra Lauffs-Wegner, Vorstandsmitglied des Arp Museums Bahnhof Rolandseck ihre Eindrücke.

Hierzu ergänzt Jutta Mattern, die Kuratorin der Ausstellung: »Mit ihren Werken verwandelt Berlinde De Bruyckere die lichtdurchfluteten Räume Richard Meiers in eine Bühne, die uns eindrücklich vor Augen hält, was ›Leben‹ sein kann. Hier, in einer Kathedrale des Lichts, verwandelt sich das Erschreckende, oftmals auch Unaussprechliche, einmal mehr in das Schöne und Erhabene. Mit einem einfühlenden Blick auf eine Welt, die bisweilen grausam und verstörend ist, schenken uns die Werke der Künstlerin Hoffnung, Schönheit sowie Sehnsucht.«

Zum Titel der Ausstellung
Berlinde De Bruyckere spricht mit dem Titel »PEL / Becoming the figure« ein zentrales Thema ihres künstlerischen Schaffens an. Das niederländische Wort »pel« – schälen, enthäuten oder auch pellen – findet ebenso im Deutschen mit dem Wort »pellen« seine Entsprechung. Es beschreibt einen für die Künstlerin signifikanten skulpturalen Vorgang, bei dem sie oftmals ihre Figuren und Formkonglomerate aus ihren Hüllen herausschält oder auch umgekehrt den Hüllen – den Häuten – zu einer körperhaften Struktur verhilft. Das Wechselspiel zwischen Abstraktion, Form und Figur vermittelt damit einen vitalen und transformativen Prozess.

Der menschliche Körper »PEL / Becoming the figure« gibt mit 34 gezeigten Werken einen Überblick über das Schaffen der Künstlerin in den letzten 25 Jahren. Die Ausstellung umspannt dabei Kunstwerke verschiedener Medien und Schaffensphasen, kommt aber immer wieder auf ein für Berlinde De Bruyckere zentrales Thema zurück: der Mensch mit seinen physischen und seelischen Verwundungen.

Die Darstellung der menschlichen Figur beruht bei De Bruyckere auf klassischen Gestaltungsprinzipien. Dabei spielt die Wahl des Materials Wachs, das malerisch von ihr bearbeitet wird, für die Realistik ihrer Skulpturen eine entscheidende Rolle. Es entstehen detailreiche Skulpturen, die menschliche Körper in ihrer Verletzlichkeit zeigen, manchmal wird die nackte Haut betont, mal erkennt man Nähte und Wunden, manchmal zeigen sich Körper ohne Köpfe und in einigen Werken werden Körperfragmente zu definierenden Elementen. Oftmals stark deformiert erinnern sie an fleischige Klumpen und verlangen den Rezipient*innen ein hohes Maß an Unerschrockenheit und empathischem Wahrnehmungsvermögen ab. Ganz im Sinne des Ausstellungstitels »PEL / Becoming the figure« nähert sich Berlinde De Bruyckere durch unterschiedliche Herangehensweisen dem Werden ihrer Skulpturen. Die Palette reicht dabei von der Hülle, die einen Körper formt, über dessen Fragmentierung bis hin zu ausgeformter Körperlichkeit.

Werke wie der »Schmerzensmann IV, 2006« führen uns dies eindrücklich vor Augen: ein nackter menschlicher Körper ohne Kopf klammert sich gekrümmt an eine Säule. Ein Bild, das in der christlichen Ikonographie für die Leiden von Jesus Christus steht. De Bruyckeres Schmerzensmann weicht jedoch von den bekannten Bildtraditionen ab. Geprägt durch ihre Internatszeit in einer Klosterschule, beschäftigte De Bruyckere sich früh mit religiöser Malerei. Heute setzt sich die Künstlerin in ihrem Schaffen ausgiebig mit christlichen Themen auseinander. Indem sie beispielsweise die Martyrien der christlichen Heiligen innerhalb ihrer künstlerischen Praxis in das Universelle und Zeitlose überführt, adaptiert sie diese in die Gegenwart.

Auch antike Mythen sind kontinuierliche Inspirationsquellen für Berlinde De Bruyckere. Allen Voran stehen die Erzählungen Ovids aus seinen Metamorphosen. Ein Beispiel hierfür ist die Geschichte des Satyrs Marsyas. Nach einem Wettbewerb im Flötenspiel straft der gekränkte Gott Apollon die Spielkunst Marsyas und lässt ihm bei lebendigem Leib die Haut abziehen. Berlinde De Bruyckere zeigt zwei »Marsyas«-Skulpturen in der Ausstellung, die sich der Frage nach Koöperlichkeit gänzlich unterschiedlich nähern. Man begegnet »Marsyas« zum einen in Form von drei Häuten bzw. Fellen, die von der Decke herabhängen und zum anderen als einer auf einem Podest stehenden menschlichen Figur, die teilweise mit Fellen umhüllt ist. In der Verhüllung mit schützenden Schichten gibt De Bruyckere Würde und Heilung an die Figur zurück. Der Körper von »Marsyas« bleibt ohne Kopf, wie so oft in De Bruyckeres Darstellungen von Menschen. Denn der Kopf ist für De Bruyckere eine Ablenkung. Sie erklärt hierzu: »Ich brauche keine Köpfe oder Gesichter, weil sie Limitierungen sind. Ich möchte, dass die Skulptur zum Betrachter über die Bewegung oder ihre Haltung spricht. Deren Ausdruckskraft ist viel stärker ohne Köpfe wahrnehmbar. Köpfe bekämen zu viel Aufmerksamkeit. Es geht um eine universellere Ebene, nicht um ein Abbild von uns in der Gegenwart.«

In ihren menschlichen Figuren präsentiert Berlinde De Bruyckere sehr persönliche Interpretationen von Verletzlichkeit, Schmerz und Leid und erkennt das Leid als eine Eigenschaft an, die alle Lebewesen vereint. Während der Betrachtung der Werke werden Mitgefuül sowie eigene Emotionen wachgerufen und als kollektive Erfahrungen erlebt. Diese Emotionen werden zu einem vereinenden Element, das Geborgenheit und Frieden schafft. Auf diese Weise beschäftigt sich De Bruyckere auch mit der anderen Seite leidvoller Erfahrungen: Mitgefühl, Gemeinschaft und Hoffnung.

Kunst und Tanz
In enger Verbindung mit den Skulpturen Berlinde De Bruyckeres steht ihre Beschäftigung mit dem Ausdrucksvermögen von Körperhaltungen und Tanz. Die Unmittelbarkeit und emotionale Übertragungsstärke von De Bruyckeres Werken verdankt sich der engen Zusammenarbeit mit einer Reihe von Tänzer*innen, mit denen die Künstlerin seit 2004 kooperiert. Allen voran der portugiesische Tänzer Romeu Runa (*1978, lebt und arbeitet in Brüssel), der während der Ausstellung im Arp Museum an drei Terminen Tanz-Performances aufführen wird. Im Miteinander von bildender Kunst und Tanz zeigt sich, wie Körperhaltungen zutiefst ergreifende innere Verfassungen offenbaren.

In De Bruyckeres Arbeitsprozessen erklärt sich der zweite Teil des Titels »PEL / Becoming the figure«. Das Erschaffen ihrer menschlichen Figuren orientiert sich zunächst an einer Idee der Künstlerin zu einem bestimmten Thema. Daraufhin entwickelt sie mit Tänzer*innen ausdrucksstarke Körperhaltungen und hält diese in Fotografien fest. Im Anschluss überträgt sie die Fotografien in Zeichnungen. Diese spielen wiederum eine wichtige Rolle im Entstehungsprozess der Skulpturen, sind aber auch als eigenständige Werke zu verstehen. Zuletzt entstehen wächserne Abgüsse von den Körpern der Tänzer*innen, die im Nachgang durch die Künstlerin umgeformt und zum Teil noch mit anderen Körperteilen zusammengesetzt werden. So zeigen sich Deformationen in unterschiedlichsten Ausprägungen.

So kam auch die Serie »Romeu my deer« mit dem Tänzer Romeu Runa zu Stande. Zwei Zeichnungen hiervon werden in der Ausstellung gezeigt und zweimal führt Romeu die gleichnamige Performance rund um den Mythos des Aktaion im Arp Museum auf. Ein wichtiges Element neben dem Körper und dessen Bewegungen sind hier Hirschgeweihe, die als Referenz zur zugrundeliegenden Geschichte zu verstehen sind und die ebenso die Wandarbeit Rodt, 6 januari, XI, 2014-2016 in der Ausstellung aufgreift. Die Themen der antiken Erzählung wie Transformation, Schmerz und Tod werden durch expressive tänzerische Bewegungen transportiert und in Form von Zeichnungen und Skulpturen als etwas Dauerhaftes festgehalten.

Die Ausstellung im Arp Museum widmet sich der Verbindung von Tanz und bildender Kunst in Form eines dokumentarischen Films, in dem Romeu Runa und Berlinde De Bruyckere über ihre Zusammenarbeit sprechen und das Zusammenwirken der beiden Ausdruckformen beschreiben. Ebenso wird die Performance »PEL« von Romeu Runa in einem Filmbeitrag zu sehen sein.

Pferdeschicksale
Eine besondere Bedeutung innerhalb des Werks von Berlinde De Bruyckere kommt seit 1999 dem Pferd zu. Ihre Faszination gilt der Schönheit, der Beseeltheit und Stärke dieser Tiere. Die intensive Beschäftigung mit historischem Bildmaterial des Archivs des In Flanders Fields Museum in Ypern, führte ihr das grausame millionenfache Schicksal der Pferde als Opfer auf den Schlachtfeldern des 1. Weltkriegs vor Augen. Auf der Basis abgegossener Pferdekörper, die anschließend mit originalen Pferdefellen bezogen werden, sind eindrückliche und berührende Skulpturen entstanden. Es verbleiben bei diesem Prozess Nähte, die sichtbare Spuren der Verletzlichkeit sind und den künstlerischen Eingriff De Bruyckeres bezeugen.

Auch diese Abgüsse wenden sich den Themen Körperlichkeit, Verletzlichkeit und Vergänglichkeit zu und verbinden sich so mit den menschlichen Abbildern. So heißt die lebensgroße Pferdeskulptur in der Ausstellung »Lichaam (Corps), 2002-2006« – übersetzt »Körper«. Es ist hier wieder der Körper und dessen Verletzlichkeit, der eine Brücke schafft zwischen Tier und Mensch. Daher stehen die Verletzungen und Verformungen der Pferdekörper auch symbolisch für das menschliche Leid im Krieg, das sich sonst bildlich kaum ausdrücken lasst. Das Pferd wird so gleichsam zur Metapher für menschliche Gefhüle und Schicksale.

Darüber hinaus tauchen auch Pferdegeschirre in der Ausstellung auf. Sie sind Teil der »Met tere huid«-Serie und die Ausgangsobjekte für Skulpturen, die Berlinde De Bruyckere mit Wachs ummantelt und mit Stoffen umwickelt. Haut und Verhüllung rücken wieder in den Vordergrund: in Schichten liegen die Materialien Leder, Wachs und Tuch übereinander. Aufgrund des Materials und der Emotionalität ihrer Arbeiten, charakterisieren sie sich durch eine zarte, aber unmittelbare Sinnlichkeit. Dabei nimmt die Künstlerin auch das Thema der Sexualität in den Fokus, denn die Arbeiten zeigen Anklänge an sowohl weibliche als auch männliche Geschlechtsorgane.

Schicht um Schicht
Im Kabinettraum treten neben Wachs andere Materialien in den Vordergrund: Papier und Stoff. Ausgestellt werden hier einige von De Bruyckeres jüngsten Werken: 10 Papierarbeiten sind für die Ausstellung im Arp Museum entstanden und werden nun zum ersten Mal gezeigt. Sie bewegen sich zwischen Zeichnung und Collage und sind in ihren Interpretationsmöglichkeiten und Anklängen ebenso vielschichtig wie ihr Material. Sie bestehen aus transparenten und erdfarbenen Papierschichten und feinen Tuschestrichen. Das Thema der Sexualität wird hier auf einfühlsame Weise verhandelt. 

Im Dialog hiermit beeindruckt eine große textile Arbeit aus gebrauchten und stark verwitterten Decken – »Courtyard Tales, 2017–2018«. Sie erinnert an abgenommene Fresken, die die Künstlerin reliefartig zueinander komponiert. Trotz der Abwesenheit eines menschlichen Körpers beschwören die Decken auch die Menschen, die sie einst geschützt, gewärmt und umhüllt haben. Sie sind Zeugnisse unbekannter Biografien und Geschichten sowie unbestimmter menschlicher Lebensbedingungen und lenken den Blick auf das Innere, auf das »dahinter liegende« und auf das, was sonst im Verborgenen bleibt.

Im einzigartigen Licht des Richard Meier Baus, im Zwischenreich auf den Rheinhöhen zwischen Himmel und Erde gelegen, erstrahlen die beeindruckenden Werke Berlinde De Bruyckeres. Natürliches Licht empfängt die Arbeiten und lässt sie in friedvoller Stille ihre Wirkung entfalten. Sie berühren uns in ihren Darstellungen des Leidens, der Versöhnung, der Hoffnung und des Mitfühlens. In ihrer Verletzlichkeit und Melancholie bewegen sie uns, wandeln zwischen Vitalität und Tod, Harmonie und Deformation, Figürlichkeit und Abstraktion. Sie sind Zeugnisse sichtbarer und spürbarer Verwandlungsprozesse menschlichen sowie tierischen Lebens. Dabei ermutigen sie uns als Teil eines Ganzen, dem Unbekannten mit Hoffnung zu begegnen.

Performances im Arp Museum
Inspiriert von Werken und in Zusammenarbeit mit Berlinde De Bruyckere präsentiert der portugiesische Tänzer Romeu Runa an drei Terminen zwei Performances. Romeu my deer orientiert sich am antiken Mythos um Aktaion von Ovid. Aktaion entdeckt auf der Jagd die Göttin Diana beim Bad und wird daraufhin von ihr in einen Hirsch verwandelt. In Gestalt des Hirsches wird Aktaion von seinen eigenen Hunden gejagt und zerfleischt. Die Performance Sibylle greift ebenfalls eine Geschichte aus Ovids Metamorphosen auf. Hier steht die Sibylle von Cumae im Mittelpunkt, die aufgrund eines unglücklich ausgebrachten Wunsches auf tragische Art und Weise altert. Während sie mehrere hundert Jahre durchlebt, schreitet ihr körperlicher Verfall zusehends fort, bis sie nur noch als Stimme zurückbleibt.