Mit „Lynn Hershman Leeson: Are Our Eyes Targets?“ richtet die Julia Stoschek Foundation die erste Einzelausstellung der Medienpionierin Lynn Hershman Leeson in Düsseldorf aus und präsentiert die Künstlerin erstmals im Rahmen der Sammlung. Ausgegend von der zentralen Arbeit The Electronic Diaries of Lynn Hershman Leeson 1984–2019, einer epischen Sechskanalvideoinstallation, beschäftigt sich die Ausstellung mit der Konstruktion von Wahrheiten durch Selbstreflexion sowie über medial vermittelte Bilder. Neben diesem Schlüsselwerk sind zudem interaktive und MixedMedia-Installationen wie Paranoid (1968 – 2022) und CyberRoberta (1996), sieben Fotocollagen der Phanton LimbsSerie und die Videoarbeiten Seduction of a Cyborg (1994) und Shadow Stalker (2018 – 2021) zu sehen, die sich mit der Gewalttätigkeit des eigenen Blickes beschäftigen: Was heißt es, etwas oder jemanden anzusehen? Was heißt es, im Gegenzug angesehen zu werden?
Vor genau vierzig Jahre begann Hershman Leeson an The Electronic Diaries zu arbeiten. Mit einer geborgten Videokamera gefilmt, stellten die Electronic Diaries für sie eine Möglichkeit dar, Kontrolle über die eigene Biografie wiederzuerlangen. Vor dem Hintergrund der Weltpolitik setzt sich die Künstlerin darin mit persönlichen Erfahrungen von Missbrauch und Krankheit sowie dem Verhältnis von Technologie und dem Selbst auseinander. Zwischen verschiedenen Zeitrahmen und Perspektiven hin und her springend, entfalten sich vor den Augen der Betrachter*innen multiple und machmal gegenläufige Personae. Sie repräsentieren die Künstlerin selbst und münden am Ende in der Frage, wie viel von dem, was wir auf unseren Bildschirmen zu sehen bekommen, überhaupt wahr ist. Hershman Leeson bringt dabei die Diskrepanz zwischen dem realen und dem Medienbild zum Vorschein: „Wir sind zu einer Gesellschaft, die vor den Bildschirmen verharrt, geworden – verschiedene Bildebenen und somit verschiedene Ebenen des Verständnisses verhindern, dass wir die Wahrheit erfahren.“ Weiter gibt sie in den Electronic Diaries zu Protokoll, „dass die Wahrheit fast nicht auszuhalten und zu viel ist, um damit klar zu kommen – so auch mit unseren Gefühlen. Also beschäftigen wir uns mit den Dingen über den Umweg der Replikation, durch Kopien, Bildschirme und Simulationen, durch Faksimiles sowie Fiktion und Faction“. Liest man diese Zeilen vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Medienlandschaft, so klingen sie um so wahrer.
Die ursprünglichen Electronic Diaries entstanden über einen Zeitraum von zwölf Jahren und wurden 1997 abgeschlossen. Bei The Electronic Diaries of Lynn Hershman Leeson 1984–2019 handelt es sich um eine erweiterte Version, in der die Künstlerin die von ihr ursprünglich erzählte Geschichte mehr als zwei Jahrzehnte danach noch einmal kontextualisiert. Die Arbeit ist auf sechs Projektionsflächen im Raum verteilt, die sich wiederum in den eingebauten Glaswänden des Ausstellungsraumes spiegeln. Dieser Version hat Herschman Leeson ein ermächtigendes und triumphales Finale hinzugefügt, in dem die Protagonistin endlich zu ihrer Stimme findet. Einmal mehr betont die Künstlerin dabei, wie zentral es ist, die Kontrolle über das eigene Narrativ zu haben, insbesondere für Frauen. Zusätzlich sind in der Ausstellung die Mixed-Media-Installation Paranoid (1968–2022) aus der Serie Breathing Machines (1965-2022), eine Auswahl von sieben Phantom Limbs-Fotocollagen (1985-1990), die interaktive Installation CyberRoberta (1996), der Print Are Our Eyes Targets? (1984) sowie die zwei Videoarbeiten Seduction of a Cyborg (1994) und Shadow Stalker (2018–2021) zu sehen. Seduction of a Cyborg erzählt in Form einer poetischen Metapher von der technologischen Invasion des Körpers. In Shadow Stalker wirft Hershman Leeson einen Blick darauf, wie digitale Identitäten entstehen und wie der Staat in unsere Privatsphäre mit Verfahren wie etwa dem Predictive Policing eindringt.
Die Arbeiten setzen sich mit dem wechselseitigen Verhältnis des Sehens und Gesehen- beziehungsweise Betrachtetwerdens auseinander, ob nun physisch, durch die Linse einer Kamera oder in virtuellen Räumen. Sie legen dabei das voyeuristische Begehren sowie das Gewaltpotenzial des westlichen Bilckes frei. Und doch deutet sich in Hershman Leesons innovativem Einsatz von Technologie, psychologischer Analyse und ihrem Spiel mit Identitäten – auf wie vor dem Bildschirm – eine Verschiebung der Machtverhältnisse an, indem der Blick auf die Betrachter*innen zurückgelenkt wird.
Hershman Leesons künstlerische Praxis entfaltete sich über mehrere Jahrzehnte hinweg, die von einschneidenden technologischen, ästhetischen, gesellschaftlichen und politischen Weiterentwicklungen und Veränderung geprägt waren. Seit den 1960er-Jahren prägt sie die künstlerischen Diskurse über Identität und Performance, Interaktivität, Cyborgs, Überwachung, künstliche Intelligenz und Biogenetik und hat somit Wege und Möglichkeiten für nachfolgende Generationen eröffnet. Sie hat mit den bedeutendsten Wissenschaftler*innen unserer Zeit zusammengearbeitet und einen komplexen Dialog zwischen Kunst und Wissenschaft angestoßen. Als Professorin und Kritikerin hat Hershman Leeson ausführlich zu Themen aus Kunst, Medien und Politik publiziert. Zwischen 1974 und 1978 beauftragte sie im Rahmen des Floating Museum mehr als 300 Künstler*innen damit, ihre Kunstwerke an öffentlichen Orten auszustellen. Dieses temporäre Museum wurde von ihr gegründet, um Künstler*innen zu unterstützen, deren Arbeiten nicht in den traditionellen Institutionen gezeigt werden. Hershman Leeson ist zudem Autorin und Regisseurin und hat sechs Spielfilme und Dokumentationen veröffentlicht. Einige dieser Filme werden im Begleitprogramm zur Ausstellung in der JSF Düsseldorf gezeigt, unter anderem Conceiving Ada (1998), Teknolust (2002), !Women Art Revolution (2010) und Tania Libre (2017).
Die Ausstellung „Lynn Hershman Leeson: Are Our Eyes Targets?“ wird von Lisa Long, der künstlerischen Leiterin der Julia Stoschek Foundation, mit Line Ajan, kuratorische Assistenz, kuratiert.
Öffnungszeiten:
Sonntag: 11:00 – 18:00 Uhr
Weitere Informationen direkt unter: jsfoundation.art