Die Landschaftsmalerei an Bodensee und Rhein zeigt seit dem frühen 19. Jahrhundert meist die Idylle. Sie ist prägend für die Malerei rund um den See, wir kennen sie aus tausendfachen Reproduktionen. Sonnenuntergänge mit Fischerbooten auf dem Gewässer, romantische Buchten, der imposante Rheinfall, das urwüchsige Appenzellerland mit Sennen und Säntis: Solche wiederkehrenden Motive vermitteln ein idealisiertes Bild eines von gesellschaftlichen und technischen Entwicklungen scheinbar unberührten Naturraumes. Einheimische Künstler und wenige Künstlerinnen produzierten seit dem 19. Jahrhundert denn auch für einen wachsenden touristischen Markt, der Bilder der Idylle nachfragte und sie als Erinnerungsschatz an arkadische Tage zwischen Voralpen und Rhein mit nach Hause nahm. Auch Künstlerinnen und Künstler aus den Metropolen zog die Idylle an: Während der „Sommerfrische“ an ländlichen Ufern entstanden so Bilder der weltabgewandten Innerlichkeit.

Doch wie so oft, die Idylle trügt: Der weitere Bodenseeraum mit seinen angrenzenden Landschaften der Ostschweiz, Vorarlbergs, Oberschwabens und des Allgäus wird seit dem frühen 19. Jahrhundert auch zu einem bedeutenden Schauplatz der Industrialisierung. Nach dem Niedergang der traditionellen Leinwandproduktion in der Ostschweiz wird 1790 in Herisau die erste Spinnmaschine aufgestellt, 1801 nimmt die erste mechanische Baumwollspinnerei in St. Gallen den Betrieb auf - das Zeitalter der Baumwollverarbeitung hat begonnen. Im Thurgau, in Konstanz und in Vorarlberg werden Baumwolltücher in Kattunfabriken bunt bedruckt. Modisch gemusterte Tücher kommen zu erschwinglichen Preisen und in rasch wechselnden Moden auf den Markt. Zur Jahrhundertmitte sind Vorarlberg, die Ostschweiz, Konstanz und Teile des Hegaus Zentren der neuen, global vernetzten Textilindustrie.

Schweizer Unternehmer investieren
Am Nordufer des Bodensees investieren seit der zweiten Jahrhunderthälfte in einer Zollschranken überspringenden Expansionsstrategie überwiegend Schweizer Unternehmer (Escher Wyss, Sulzer, Schiesser, Maggi etc.) in die Gründung von Maschinenfabriken, die der

Textilindustrie die nötige Technologie liefern. Auch in Arbon, Singen und Schaffhausen rauchen die Schlote neuer Industriebetriebe, wird Metall gegossen, werden Motoren, in Friedrichshafen schließlich Luftschiffe, Flugzeuge und Autos gebaut. Zugleich existieren die traditionelle Land- und Alpwirtschaft, Handstickerei und bewährte Handwerkskunst neben den Fabrikanlagen der Industrialisierungszeit mit ihren Fabrikhallen, Dampfmaschinen und Kohlehalden weiter.

Haben diese tiefgreifenden Veränderungen des Bodenseeraumes und seiner angrenzenden Landschaften auch einen Niederschlag im künstlerischen Schaffen des 19. und 20. Jahrhunderts gefunden? In der Sonderausstellung „Wir schaffen was“ geht das Rosgartenmuseum rings um den See auf Spurensuche: Wir suchen nach Darstellungen der menschlichen Arbeit. Und wir fragen, sind die Arbeitswelten der Menschen in Fabrik und Werkstätten, in Nähstuben, auf Güterbahnhöfen, auf dem Bau, im Hafen und in der traditionellen Landwirtschaft nur idealisierend oder auch realistisch, gar sozialkritisch und mit Sympathie für die Lasten des Alltags dargestellt?

„Arbeiten, wo andere Urlaub machen“
Aus den Museumsammlungen rund um den Bodensee kommen überraschende Blicke auf den Alltag der arbeitenden Bevölkerung, zutage. „Arbeiten, wo andere Urlaub machen“: dieser Slogan der Fremdenverkehrswerbung des 20. Jahrhunderts hatte schon vor 150 Jahren einen nüchternen Realitätsbezug: Unweit von den Hotelpalästen am Seeufer und in Bergeshöhen zogen Arbeiterinnen, Arbeiter und bis ins 20. Jahrhundert hinein auch Kinder in Fabrikhallen, auf Baustellen und zur Feldarbeit, um 12-stündige Arbeitstage zu bewältigen. In Zusammenarbeit mit Partnermuseen in Bregenz, Meersburg, Stockach4, Ittingen, Schaffhausen, St. Gallen, Steckborn, Urnäsch und Appenzell IR sowie mit Leihgaben aus privaten Sammlungen wirft das Rosgartenmuseum angesichts des aktuellen tiefgreifenden Bedeutungswandels von Arbeit einen Blick zurück und damit auch nach vorne: Verliert menschliche Arbeit im digitalen Zeitalter ihre zentrale Bedeutung und ihre industriegeschichtlich bedingte ideologische Aufladung, werden „work-life-balance“, Arbeitszeitreduzierungen und mehr gemeinnütziges Engagement die Arbeitswelt noch stärker als bisher bestimmen oder sind sie nur kurzlebige Zeiterscheinungen? Im Rahmenprogramm der Ausstellung werden auch solche aktuellen Fragen verhandelt werden.

Zur Ausstellung erscheint ein Begleitband. Tobias Engelsing (Hg.): Wir schaffen was! Arbeitswelten in der Kunst am Bodensee, reich illustriert, 168 Seiten, 16.- 


Öffnungszeiten:
Dienstag - Freitag: 10:00 - 18:00 Uhr
Samstag - Sonntag: 10:00 - 17:00 Uhr
Montag: geschlossen

Weitere Informationen direkt unter: rosgartenmuseum.de

Fritz Hildebrandt: Beim Holzmachen, Öl auf Pappe, 1947 © Rosgartenmuseum KN
18.05.2024 - 05.01.2025

Wir schaffen was! Arbeitswelten in der Kunst am Bodensee

Rosgartenmuseum

Rosgartenstraße 3-5
78462 Konstanz