Es ist nicht nur der Umfang von 130 Papierarbeiten, der die Ausstellung „Die Zeichnerin Paula Modersohn-Becker“ so besonders macht. Es sind vor allem auch die unbekannten Einblicke in Paula Modersohn-Beckers künstlerische Gedankenwelt und die neuen Erkenntnisse über ihre Arbeitsweise, die diese Schau zu einer der wichtigsten über die norddeutsche Künstlerin mit internationaler Strahlkraft machen. Möglich ist dieses Projekt dank der jahrzehntelangen Arbeit der Paula-Modersohn-Becker-Stiftung an dem Werkverzeichnis der insgesamt 1328 Zeichnungen. Vom 13. Mai bis 20. August 2023 sind nun im Paula Modersohn-Becker Museum Bremen Skizzen, Zeichnungen, Aquarelle und Pastelle aus allen Schaffensphasen der Malerin, aus privaten und öffentlichen Sammlungen, versammelt – darunter Arbeiten, die erstmals oder nach Jahrzehnten im Verborgenen ausgestellt werden und nach Ende dieses Projekts erneut zurück in ihre Depots kehren.

Die Ausstellung beginnt dort, wo der Werdegang von Paula Modersohn-Becker seinen Anfang nahm: in den Zeichenschulen von London und Berlin sowie in Worpswede. Von Studienblättern, in denen sich die Künstlerin in Modellierung übte, über croquis, mit denen sie ihre Auffassungsgabe trainierte, hin zu eindrucksvollen lebensgroßen Aktstudien, veranschaulichen die Arbeiten zum Auftakt der Ausstellung das lebendige Lernen und den unermüdlichen Drang Paula Modersohn-Beckers, ihr zeichnerisches Können zu verbessern und zu erweitern.

Die Emanzipation vom Akademischen begann mit der Jahrhundertwende und ihrem ersten Aufenthalt in Paris. Die Skizzen aus dem Louvre deuten bereits an, wohin sich die Bildsprache von Paula Modersohn-Becker entwickeln sollte. Sie konzentrierte sich auf blockhafte Figuren und Formen. Gezielt beschäftigte sie sich mit außereuropäischen Kulturen und fokussierte sich in Gemälden Alter Meister vornehmlich auf ruhende, unbewegte Figuren. Sie erarbeitete sich in diesen Studien ein individuelles Bildgedächtnis, auf das sie im Laufe der Zeit immer wieder zurückgriff. Paris ist auch die Umgebung, die Paula Modersohn-Becker als Experimentierfeld nutzte. In den Zeichnungen des städtischen Lebens spielte sie mit der Perspektive, testete die Wirkung von Figuren im Bildraum aus und – im malerischen Werk so gut wie nicht vorhanden – hielt flüchtige Augenblicke fest. Dabei wurde ihre Strichführung schneller und die Zeichnungen konzentrierter. Teil dieser Erzählung in der Ausstellung wird auch das vollständig erhaltene Pariser Skizzenbuch von Paula Modersohn-Becker aus den Jahren 1900 und 1903 sein.

Ein weiteres Kapitel der Ausstellung gilt den „ungemalten“ Bildern von Paula Modersohn-Becker. Die in diesen Zeichnungen präsentierten Bildideen wurden malerisch nicht umgesetzt, ermöglichen jedoch einen einzigartigen Einblick in die Gedankenwelt der Künstlerin und verleiten zu Gedankenspielen, wohin die Bildsprache der Malerin sich entwickelt hätte, wenn sie länger gelebt hätte.

Im letzten Raum finden Gemälde und vorbereitende Studien zusammen. An einzelnen Beispielen kann der Weg zur finalen Komposition nachvollzogen werden. Im Zusammenspiel mit den Bildern zeigt sich bisweilen, wie die Künstlerin bereits in den Zeichnungen Oberflächenstrukturen und Farbwerte andeutete. Dem Gemälde „Alte Armenhäuslerin im Garten mit Glaskugel und Mohnblumen“ (1907) gingen einige Varianten voraus. Das Motiv der Mutter mit Kind lässt sie über Jahre hinweg nicht los, bis sie schließlich über zahlreiche Studien zu der monumentalen, archaischen Interpretation „Liegende Mutter mit Kind II“ (1906) gelangte.

Anlass und Grundlage für die Ausstellung im Paula Modersohn-Becker Museum ist das Werkverzeichnis der Zeichnungen von Paula Modersohn-Becker, das nach jahrzehntelanger akribischer Recherche und Forschungsarbeit im Sommer dieses Jahres von Wolfgang Werner und Anne Röver-Kann von der Paula-Modersohn-Becker-Stiftung herausgegeben wird. Die Erkenntnisse in der Ausstellung basieren auf diesem aktuellsten Stand der Forschung.

Dem Stellenwert der Zeichnungen im Gesamtwerk der Künstlerin wurde bisher nur marginal Aufmerksamkeit geschenkt – zu Unrecht. Denn wie die erste Ausstellung der Zeichnungen von Paula Modersohn-Becker seit fast 50 Jahren deutlich machen wird, war das Zeichnen entscheidend bei der Entwicklung ihrer einzigartigen, modernen Bildsprache.