Mit ihrer spontanen Aussagekraft, ihrer Direktheit und ihrem erzählerischen Potential übt die Zeichenkunst eine Faszination aus, die heute aktueller denn je erscheint. Insbesondere in Zeiten von Digitalisierung und Social Media rückt die subjektive zeichnerische Geste mit ihrer handschriftlichen Qualität verstärkt in den Fokus zeitgenössischer Künstler*innen, aber auch ganz allgemein gilt das Medium als unmittelbarste künstlerische Ausdrucksform. Nirgends ist der Weg von der Idee zur Visualisierung kürzer und einfacher – ein Minimum an materiellen Mitteln reicht aus, um eine Zeichnung entstehen zu lassen. Zugleich sind ihre Techniken, ihr formales Repertoire und ihre Ausdrucksmöglichkeiten unerschöpflich. Die große Herbstausstellung in der Städtischen Galerie Karlsruhe widmet sich unter dem Titel „Drawing Rooms: Marcel van Eeden | Karl Hubbuch“ zwei herausragenden Zeichnern. Vergangenheit und Gegenwart treten in einen vielschichtigen Dialog miteinander: Marcel van Eeden (geb. 1965), der niederländische Gegenwartskünstler und Rektor der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste Karlsruhe, und Karl Hubbuch (1891–1979), der Grafiker der Weimarer Republik und bekannte Vertreter der Neuen Sachlichkeit, begegnen sich als Zeichner, aber auch als Grafiker, Fotografen und Karlsruher Akademielehrer.

Ausgehend von bedeutenden Blättern des umfangreichen Bestands an Handzeichnungen und Druckgrafiken Karl Hubbuchs in der Städtischen Galerie Karlsruhe inszeniert Marcel van Eeden über eine Distanz von etwa hundert Jahren hinweg einen Dialog von Klein- und Großformaten, Einzelmotiven, Schriftbildern und Fotografien, Serien und Künstlerbüchern. Im Zwiegespräch der Exponate verknüpfen sich in dieser Ausstellung unterschiedliche Orte, Ereignisse und Erzählstränge ebenso wie Fakten und Fiktionen kunstvoll miteinander: Acht Serien mit über 150 Papierarbeiten, darunter auch ganz neue, eigens für die Städtische Galerie Karlsruhe geschaffene Werke Marcel van Eedens, stehen dem eigenen Werkbestand Karl Hubbuchs gegenüber.

Karl Hubbuch
Wie kein anderer Künstler seiner Zeit hat Karl Hubbuch den Ruf seiner Heimatstadt Karlsruhe als bedeutender Kunststadt geprägt und weit über die Grenzen hinausgetragen. Neben George Grosz und Otto Dix zählt er zu den Protagonisten des Verismus und der Neuen Sachlichkeit in Deutschland. Diese Künstler hatten sich – desillusioniert von den Erfahrungen des Ersten Weltkriegs und hellwach gegenüber den politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen in der Weimarer Republik – einer genau beobachtenden Bildsprache zugewandt. Bereits 1924 schrieb ein Rezensent anlässlich der ersten Einzelausstellung des Künstlers, Hubbuch sei „ein kühler Beobachter, ein philosophischer Kopf voller Einfälle, ein entschiedenes zeitsatirisches Talent und schließlich ein Zeichner von ganz hervorragenden Qualitäten“. Sein kritischer Realismus wurde in Deutschland vor allem durch die Teilnahme des Künstlers an der epochalen Ausstellung „Neue Sachlichkeit“ 1925 in der Mannheimer Kunsthalle und durch seine Lehrtätigkeit an der Karlsruher Kunstakademie (damals Badische Landeskunstschule) bekannt. 1933 wurde er als erster Professor der Landeskunstschule von den Nationalsozialisten entlassen. Als die Kunstakademie im Herbst 1947 ihren Betrieb wieder aufnahm, gehörte er zu den erneut berufenen Lehrkräften. Gemälde und Zeichnungen von seiner Hand sind international in zahlreichen namhaften Museen vertreten. Im Jahr 2020 kam der künstlerische Nachlass Hubbuchs als Schenkung an die Städtische Galerie Karlsruhe, die seither mit etwa 1.500 Arbeiten über die weltweit größte Sammlung an Werken des Zeichners verfügt. Die Ausstellung „Drawing Rooms“ ist somit auch ein willkommener Anlass, einen Teil dieses Nachlasses erstmals öffentlich zugänglich zu machen.

Marcel van Eeden
Gilt Hubbuch als strenger Souverän der Linie und Protokollant der Großstadt mit ihren Randexistenzen, belebt Marcel van Eeden mit seinem koloristisch geführten Zeichenstift konsequent eine Welt außerhalb seiner eigenen. Auf Grundlage von Abbildungen aus alten Büchern und Katalogen, Zeitschriften und Tageszeitungen, Reisebüchern und Atlanten oder historischer Fotografien und Postkarten, die allesamt aus der Zeit vor seinem Geburtsjahr 1965 gedruckt wurden, erkundet und aktualisiert er eine Zeit, die er selbst nicht miterlebt hat. In postmoderner Manier werden die historischen Vorlagen assoziativ zu neuen, dramatisch ausgeleuchteten Zeichnungen und zwiespältigen Narrationen kombiniert. Mit einer Vorliebe für das Absurde, Kriminalistische und Zufällige evoziert van Eeden eine versunkene Gegenwart, die ebenso gut unsere wie auch eine zukünftige sein könnte. Die umfangreichen Bildsequenzen verweben in höchst suggestiver Weise reale Situationen mit fiktiven Geschichten, manche erinnern an Filmszenen und Standfotos. Bedeutende historische Begebenheiten spielen in der Bild- und Vorstellungswelt des Künstlers zumeist keine Rolle, eher sind es alltägliche Ereignisse, die den Zeichnungen als Ausgangspunkt dienen. Oft vervollständigen fragmentierte Satzfetzen die Blätter, für die ein weicher Zeichenstil und ausgeprägte Hell-Dunkel-Wirkungen charakteristisch sind. 

Zeichenkunst im Dialog
Die Ausstellung „Drawing Rooms“ knüpft enge Verbindungen zwischen den passionierten Zeichnern Karl Hubbuch und Marcel van Eeden, sie legt den Fokus auf Gemeinsamkeiten und Parallelen. Ihre dialogische Struktur wird gleich zu Beginn des Rundgangs augenfällig, bildet doch eine Gegenüberstellung der „Faust“-Serien beider Künstler den Auftakt. Goethes Dichtungen sind bis heute hochaktuell geblieben: Hubbuch veröffentlichte bereits 1922 eine Mappe mit 16 Radierungen, van Eedens freie „Faust“-Adaptionen nehmen in der Szenenwahl einerseits auf Hubbuchs Zyklus Bezug und stehen andererseits den Bildern des Film Noir nahe. Auch das Arbeiten in Serien ist für die Vorgehensweise beider Künstler charakteristisch. Immer wieder beschäftigen sie sich über einen längeren Zeitraum hinweg mit einem bestimmten Thema oder einem spezifischen Ort wie etwa Berlin, Den Haag oder Karlsruhe.

Geht es Hubbuch vorrangig um die Dokumentation von Erlebtem, steht bei van Eeden der künstlerische Prozess im Vordergrund. In größeren Werkgruppen erzählen sie Geschichten, dokumentieren Schauplätze, variieren Figuren und setzen spielerisch reale und fiktive Ereignisse in Gang. Ihre Bildgeschichten schlagen einen Bogen von den 1920er-Jahren bis in die Nachkriegszeit. Während Hubbuchs Berlin- und Holland-Blätter nicht als zusammenhängende Folgen realisiert wurden, konzipierte er seine Radierungen und Zeichnungen zu „Faust“, „La France“ (1931) und „Die Hauptstadt“ (1970) als Zyklen, die auch als Mappen oder Künstlerbücher veröffentlicht wurden.

Wie kaum ein anderer in der zeitgenössischen Kunst bevorzugt Marcel van Eeden das Arbeiten in Serien, es ist seit vielen Jahren ein grundlegendes Charakteristikum seines Schaffens. Seine hier präsentierten, zwischen 2013 und 2022 entstandenen Bildfolgen konzentrieren sich auf jeweils rund 30 Blätter. Der Künstler installiert die mit schwarzem Kohlestift geschaffenen Szenen in einheitlich dunklen, nostalgisch anmutenden Rahmen, die sich rhizomartig auf den Wänden verteilen. Der schwarz-weiße Kanon dieser labyrinthischen Konstruktionen wird zunehmend durch farbige Gestaltungen, größere Formate und teils auch durch andere künstlerische Techniken erweitert. 


Öffnungszeiten:
Mittwoch - Freitag: 10:00 - 18:00 Uhr
Samstag - Sonntag: 11:00 - 18:00 Uhr
Montag - Dienstag: geschlossen 

Informationen direkt unter: galerie.karlsruhe.de

Karl Hubbuch_Mademoiselle Simone_1961 © Karl Hubbuch Stiftung Städtische Galerie Karlsruhe, Foto Heinz Pelz .jpg Aktionen
29.10.2022 - 16.04.2023

Drawing Rooms: Marcel van Eeden | Karl Hubbuch

Städtische Galerie Karlsruhe

Lorenzstraße 27
76135 Karlsruhe