Herausfordernd und mürrisch blickt uns ein Hund mit zugewandtem Körper und gesenktem Kopf an. Man hört förmlich das Knurren und Hecheln. Während ein Teil seines struppigen Fells von Sonnenstrahlen hell erleuchtet ist, verschwindet seine Schnauze im Schatten. Ob dieser Straßenköter eine Ahnung davon hat, dass dieses Schwarzweißbild von ihm zu einer Bildikone werden wird?

Daido Moriyama (*1938, Osaka) hat im Laufe seiner 60-jährigen Karriere die Art und Weise, wie wir Fotografie sehen, maßgeblich verändert. Mit seiner Kamera hat er nicht nur seine direkte Umgebung dokumentiert und eine künstlerische Gesellschaftsanalyse des Nachkriegsjapans geschaffen, sondern auch das fotografische Medium selbst befragt. Seine unverkennbare Bildsprache ist ebenso legendär wie seine zahlreichen Publikationen, die in seinem Werk einen zentralen Stellenwert einnehmen. Daher präsentiert die Retrospektive bei C/O Berlin neben rund 250 Arbeiten und raumgreifenden Bildinstallationen auch Dutzende noch nie zuvor ausgestellter Fotobücher und Magazine von einem der originellsten und einflussreichsten Künstler und Straßenfotografen der Gegenwart.

Massenmedien und Werbung, gesellschaftliche Tabus oder schlichtweg die Theatralität des Alltags – Daido Moriyamas fotografische Themen haben Betrachter:innen seit jeher in ihren Bann gezogen. Pointiert hat er das Aufeinanderprallen von japanischer Tradition und beschleunigter Verwestlichung in Folge der amerikanischen Militärbesetzung Japans nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges kommentiert. Inspiriert durch US-amerikanische Künstler wie Andy Warhol und William Klein sezierte er die aufkommende japanische Konsumgesellschaft mit Messerschärfe und thematisierte darüber hinaus die Reproduzierbarkeit von Bildern, ihre Verbreitung und ihren Konsum. Immer wieder hat Moriyama auch sein eigenes Bildarchiv in neue Zusammenhänge gesetzt und mit Vergrößerungen, Fragmentierungen und Bildauflösungen experimentiert. Bis heute gelten sein künstlerischer Pioniergeist und die visuelle Intensität als wegweisend. 

Unterteilt in zwei Schaffensphasen präsentiert die Retrospektive zuerst seine frühen Serien für japanische Zeitschriften wie Camera Mainichi und Asahi Camera, die Auseinandersetzung mit fotografischem Realismus, seine Experimente im Provoke-Magazin oder seine Jahre auf Reisen. Diese avantgardistischen Arbeiten etablierten seine einzigartige Ästhetik: unscharfe und körnige Schwarzweißfotografien mit ungewöhnlichen Bildbeschnitten, die unter der Maxime „are, bure, boke“ (körnig, verwackelt, aus dem Fokus) stilprägend für eine ganze Generation wurden. Der zweite Ausstellungsteil setzt nach einer kreativen Schaffenskrise Moriyamas von fast 10 Jahren an: seit den 1980er Jahren erforscht er das Wesen der Fotografie und sich selbst, indem er eine visuell-lyrische Reflexion über Realität, Erinnerung und Städte entwickelte, die durch ihre konzeptuelle Tiefe überzeugt. 

Daido Moriyama . Retrospective basiert auf einer dreijährigen Recherche und ist somit eine der umfangreichsten Ausstellungen zu dem Werk des japanischen Fotokünstlers, die je zusammengestellt wurde. Sie wird vom Instituto Moreira Salles in Zusammenarbeit mit der Daido Moriyama Photo Foundation organisiert. C/O Berlin zeigt sie als zweite Institution weltweit und erste Station in Europa. Kuratiert von Thyago Nogueira, Instituto Moreira Salles, in Zusammenarbeit mit Sophia Greiff, C/O Berlin Foundation. Eine ausstellungsbegleitende Monographie erscheint im Prestel Verlag.