Trinh T. Minh-ha zählt zu den einflussreichsten internationalen Filmemacher*innen. Seit den frühen 1980er Jahren entwickelt sie ein filmisches, theoretisches und poetisches Werk, das als grundlegend für postkoloniale und feministische Ansätze in Kunst und Forschung gilt. Mit The Ocean In A Drop zeigt der Württembergische Kunstverein nun die erste umfassende Einzelausstellung der in Berkeley lebenden Künstlerin, Musikkomponistin und Dichterin in Deutschland.

Trinh arbeitet in den Zwischenbereichen von Dokumentation und Fiktion, Kunst und Theorie, des zu Sehenden und zu Hörenden. Ihre vielfach prämierten Filme wurden hauptsächlich in verschiedenen Teilen Afrikas und Asiens gedreht und zeichnen ein mehrdimensionales, vielstimmiges Bild von den dortigen Menschen, ihren Kulturen, Geschichten und politischen Zusammenhängen – immer eingebettet in grundsätzliche philosophische Fragestellungen. Mit ihrer künstlerischen Praxis des »in-der-NäheSprechens« (Trinh) – anstelle des »über« oder »für« jemanden Sprechens – nähert Trinh sich dem ihr Fremden in vertraulicher und zugleich respektvoller Weise. Ihr Anliegen ist es, den kolonialistisch geprägten Blick der Ethnologie aufzubrechen.

Der Titel der Ausstellung (übersetzt: Der Ozean in einem Tropfen) verweist auf die politischen und poetischen Kräfte, die in Trinhs Filmen vor allem im Alltäglichen, im Ungesehenen, Nicht-Heroischen und Randständigen zu finden sind. Für die Künstlerin enthält auch das scheinbar Winzigste immer das Ganze.

The Ocean In A Drop zeigt sechs Langfilme aus den 1980er Jahren bis heute, die in sechs farblich gestalteten Räumen zu sehen sind. Die Auswahl der Werke verbindet den jüngsten, What About China? (2020), mit einem der frühesten Filme, Naked Spaces – Living is Round (1985), die sich verschiedenen Regionen Chinas beziehungsweise Westafrikas nähern und dabei auf vielerlei Ebenen das Kreisförmige, sich Wiederholende als Alternative zum Linearen reflektieren. Weitere Filme, die vor und nach den gesellschaftlichen Umbrüchen von 1989 entstanden sind, erweitern den Blick auf die Geschichte und Gegenwart Chinas und Vietnams: Shoot for the Contents (1991), Surname Viet Given Name Nam (1989), und Forgetting Vietnam (2015). In Night Passage (2004), einem der wenigen Werke, das eher dem Genre des Spielfilms entspricht, dient eine Zugreise als Metapher für die Übergänge und Kreisläufe zwischen Leben und Tod.

Zu den wiederkehrenden Motiven der gezeigten Filme zählen die Beobachtung von Ritualen, wie sie sich im Fest, in den Künsten, der Religion oder im Alltag manifestieren, sowie die Beziehungen zwischen ländlichen, Küsten- und urbanen Räumen, zwischen Tradition und Gegenwart, dem Analogen und Digitalen, dem Körper und seinen Lebensräumen.

Trinh verknüpft in ihren Filmen eine Fülle von Elementen – wie Musik, Geräusche, Bilder, ihre eigene und die Stimmen anderer, Materialien aus unterschiedlichen Kontexten und Zeiten – zu mehrschichtigen Werken. Das Paradoxe, Unerwartete und Widersprüchliche dienen dabei als Schlüssel für ein tieferes Verständnis der Welt.

Neben der Präsentation des herausragenden Werks von Trinh T. Minh-ha erprobt die Ausstellung neue Formen der Erfahrung von Kino. Die gleichzeitige Projektion aller sechs Langfilme ist bewusst darauf angelegt, sie eher ausschnitthaft, statt klassisch von Anfang bis Ende zu sehen – wobei auch jeder Ausschnitt immer das Ganze in sich trägt. Im Hin- und Herbewegen zwischen den Filmkojen entstehen für die Besucher*innen immer neue und überraschende Beziehungen zwischen den einzelnen Filmen der Künstlerin.

Der poetischen Sprache Trinhs folgend, beginnt die Ausstellung mit einer Reihe von gestalteten Textbannern, die Zitate aus allen sechs Filmen enthalten. Im zentralen Ausstellungsraum, der von den Filmkojen gerahmt wird, spiegeln sechs Miniprojektionen die verschiedenen Werke in abstrahierter Form wider. Sie laufen synchron zu den Filmen in den Kojen, ein Timecode zeigt an, an welcher Stelle sie sich jeweils befinden. Die Ausstellung findet so auf zwei Ebenen statt, die dem Kinosaal und dem White Cube entsprechen und zugleich über diese hinaus gehen. Da The Ocean In A Drop auch die Schriften Trinhs hervorheben möchte, werden ihre zahlreichen Bücher an drei Tischen vorgestellt, eingebettet in eine Auswahl von Zitaten. Trinh

T. Minh-ha. The Ocean In A Drop wurde von Hans D. Christ und Iris Dressler kuratiert. Die Ausstellung ist in Kooperation mit Ute Meta Bauer und dem NTU Centre for Contemporary Art in Singapur sowie dem Rockbund Art Museum in Shanghai entstanden.

Zur Ausstellung, die ein dichtes Veranstaltungsprogramm umfasst, erscheint ein Booklet. Sie ist Teil einer Serie von Einzelpräsentationen, die verschiedenen Künstlerinnen mit feministischen und diversen intersektionalen Ansätzen gewidmet ist: Carrie Mae Weems, Trinh T. Minh-ha (2022), Delphine Seyrig, Adina Pintilie (2023). 


Trinh T. Minh-ha zählt zu den bedeutendsten Vertreter*innen des internationalen Independent-Films. Seit den frühen 1980er Jahren entwickelt sie ein theoretisches, filmisches und poetisches Werk, das als grundlegend für postkoloniale und feministische Ansätze in Kunst und Forschung gilt, und das die Grenzen zwischen Dokumentation und Fiktion maßgeblich verschoben hat.

In Hanoi geboren und in Saigon aufgewachsen, emigrierte Trinh 1970 während des Vietnamkriegs in die USA. Nach dem Studium der Komposition, Musikethnologie und französischen Literatur in Illinois und Paris lehrte sie ab 1977 drei Jahre am National Conservatory of Music and Drama in Dakar, Senegal. Aus dieser Zeit gehen die gemeinsam mit dem Fotografen und Architekturwissenschaftler Jean-Paul Bourdier verfasste Publikation African Spaces. Designs for Living in Upper Volta (1985) sowie ihre ersten beiden 16mm-Filme Reassemblage (1982) und Naked Spaces – Living Is Round (1985) hervor – Beide von Bourdier produziert, der an all ihren filmischen Werken organisatorisch beteiligt ist. Von 1992 bis 2022 lehrte Trinh an der UC Berkeley in den Fachbereichen für Rhetorik sowie Gender- und Frauenforschung.

Zu Beginn des in Senegal gedrehten Films Reassemblage heißt es aus dem Off: „I do not intend to speak about, just speak near by” (Ich habe nicht vor, über, sondern nur in der Nähe zu sprechen). Das „in der Nähe sprechen“ wird zur zentralen Methode Trinhs, sich der Fremdheit und Andersartihkeit mit Intimität und Respekt anzunähern und so den kolonialen Blick zu durchkreuzen.

Trinhs insgesamt neun Filme wurden in über sechzig Retrospektiven auf Filmfestivals und in Institutionen weltweit gewürdigt. Zu Letzteren zählen unter anderen das NTU Center for Contemporary Art Singapore (2020/21), das Institute of Contemporary Art (ICA) in London (2017), das Jeu de Paume in Paris (2008), die Tate Modern in London (2006), das Museo Nacional Centro de Arte Reina Sofia (2004) oder die Secession in Wien (2001). Sie nahm an zahlreichen Biennalen wie der Manifesta 13 in Marseille (2020), der Busan Art Biennale (2004), sowie der Documenta11 in Kassel (2002) teil. Ihre Installationen waren in Institutionen wie dem Musée du Quai Branly in Paris (2006– 2009), dem Kyoto Art Center in Japan (2003) oder dem Yerba Buena Center for the Arts (1999) zu sehen.

Zu ihren wichtigsten theoretisch-poetischen Schriften zählen Women, Native, Other (1989), When the Moon Waxes Red (1991), Elsewhere, Within Here (2011) und Lovecidal. Walking with The Disappeared (2016) sowie die Kompilationen aus Interviews und / oder Filmskripts in Framer Framed (1992),Cinema Interval (1999), The Digital Film Event (2005) und D-Passage. The Digital Way (2013).

Trinh erhielt zahlreiche Preise und Auszeichnungen wie den Wild Dreamer Lifetime Achievement Award des Subversive Festival 2014 in Zagreb, den Trailblazers Award des Cannes International Documentary Film Event 2006 oder den Best Cinematography Award des Sundance Film Festival 1992 für den Film Shoot for the Contents. Ihr jüngster Film What About China? erhielt 2022 den New Vision: CPH Dox Award, den Prix Bartók des Jean Rouch Film Festivald und den renommierten Persistence of Vision Award des San Francisco International Film Festivals.