Seit den frühen 1990er Jahren arbeitet Tacita Dean (1965, Canterbury) an einem umfangreichen Gesamtwerk, für das sie unterschiedliche Medien wie Film, Fotografie, Ton, aber auch Zeichnung, Grafik und Collage verwendet. Ihre Arbeit, in der sie ein weites Panorama von Themen behandelt, zeichnet sich durch eine genaue Beobachtung der Zeit, eine präzise Betrachtung der Geschichte und die Liebe zu lebensnahen Details aus. Daneben ist Dean offen auch für den Zufall als eines der Grundprinzipien ihrer Arbeit. Als Freundin unfreiwilliger Handlungen erlaubt sie auch manchmal Unvorhergesehenes, den Umständen Geschuldetes oder Verunglücktes das Resultat ihrer Arbeit zu bestimmen. Seit 2011 geht es in ihrer Arbeit auch um die Verdrängung der analogen Fotografie, bzw. des analogen Films durch digitale Bildmedien, ein Thema, zu dem sie ausführlich geschrieben und gesprochen hat und bei dem sie die exponentielle Zunahme von Bildern beschrieb. „Eine Welt, die nicht vergisst, geht unter in ihrer Unfähigkeit zu vergessen.“

In der Ostgalerie sind Werke vereint, die für das Bühnenbild des Ballets The Dante Project angefertigt wurden, welches im Oktober 2021 im Royal Opera House in London uraufgeführt wurde.

Dean fertigte das Design für das Bühnenbild und für die Kostüme eines von Wayne McGregor (1970, Stockton) choreographierten Ballets, zu dem der Komponist Thomas Adès (1971, London) die Musik geschrieben hatte. Das auf der Göttlichen Komödie von Dante Alighieri (1265, Florenz – 1321, Ravenna) beruhende Dante Project gliedert sich in drei Teile und stellt die Reise Dantes durch das Reich der Toten dar, durch Hölle, Fegefeuer und Paradies.

In den drei verschiedenen, für jeden Akt verwendeten Techniken (Zeichnung, Fotografie und Film), entwickelt sich Deans Bühnenbild vom Negativen ins Positive, vom Einfarbigen in die Farbe, von der Darstellung in die Abstraktion, während Dantes Reise in die Unterwelt grafisch dargestellt wird. Inferno (2019) ist Deans bisher größte Zeichnung auf einer Schiefertafel. Sie stellt eine umgekehrte gefrorene Berglandschaft im Negativ dar. Inspiriert von Dantes Beschreibung einer kalten Welt, erschuf Dean eine detailreiche Unterwelt, in der die Seelen unter einer tiefhängenden Decke tanzen. Über ihnen ermöglicht ein kleiner ellipsenförmiger Spiegel mit einem Blick auf den jetzt aufrecht stehenden umgekehrten Berg eine Ahnung der normalen Welt, die den Verdammten unzugänglich bleibt.

Purgatory (Threshold) (2020) ist eine großformatige, an die Wand gepinnte Fotografie, die intensiv mit weißem Stift bearbeitet wurde. So wie Dantes „Fegefeuer“ ein Zwischenzustand ist, verfolgte Dean die Idee, ein Bild irgendwo zwischen Negativ und Positiv zu machen. Die mit Hilfe einer analogen 8 x 10 Zoll Großformatkamera aufgenommenen Jacaranda-Bäume, deren Blüten im Frühling violett leuchten, werden in Drucken gezeigt, bei denen die Farben im Negativ zu sehen sind, was die deutlich violetten Blüten in ein sehr diesseitiges Grün verwandelt. Die durch den weißen Stift wie verhüllt wirkende städtische Umgebung gibt dem Ganzen einen zusätzlich befremdlichen Charakter.

In der Mitte des Ausstellungssaals steht ein Pavillon, in dem der 35mm-Film Paradise (2021) gezeigt wird, die letzte Arbeit dieser Trilogie. Paradise wird hier erstmals als Kunstwerk gezeigt, außerhalb seines ursprünglichen Kontextes als Bühnenbild eines Ballets. Die begleitende Musik ist eine digitale Simulation von Thomas Adès’ Partitur für Orchester, Paradiso. Unter Technikern als MIDI bekannt, wurde die musikalische Computersimulation ein wertvolles Tool, als es während des Covid-19 Lockdowns Orchestern nicht möglich war, Musik aufzunehmen. Paradise ist anamorphotisch und vollkommen abstrakt und bezieht sich auf die kreisförmigen und planetarischen Motive, die Dante in seinem Paradies beschreibt. Die üppigen Farben des Films entstammen der Palette von William Blake (1757 – 1827, London). Sie finden sich auch in den zehn handgedruckten Siebdrucken im Korridor, auf denen unterschiedliche planetarische Zustände dargestellt sind.

Weitere Arbeiten aus dem Kontext von The Dante Project sind zu sehen, darunter zwei Werke aus der Fegefeuer-Reihe, Purgatory (Mounts I & II) (2021) sowie eine achtteilige Fotogravur mit dem Titel Inferno (2021), die aus einem Panorama alter Fotografien mit Bergen collagiert und mit Beschriftungen versehen wurde, um die Reise von Dante und Vergil anzudeuten. Eine kleine Kohlezeichnung, Expulsion (2019), nach Masaccios (1401, San Giovanni Altura – 1428 Rom) Fresko in der Brancacci-Kapelle in Florenz zeigt die Vertreibung von Adam und Eva aus dem Paradies. Als Auftragsarbeit für das Magazin der Süddeutschen Zeitung entstand die Zeichnung als Antwort auf den Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union.

Im zweiten Teil der Ausstellung geht es um Tacita Deans 16 mm-Film One Hundred and Fifty Years of Painting (2021), der in einem speziell entworfenen Pavillon gezeigt wird, in dem auch zwei Gemälde der im Film vorkommenden Künstler hängen: Luchita Hurtado (1920, Caracas - 2020, Santa Monica) und Julie Mehretu (1970, Addis Ababa). Der Film, der eine Unterhaltung zwischen beiden Frauen zeigt, kam zustande aufgrund ihrer Freundschaft mit Dean. Als diese realisierte, dass beide an einem 28. November geboren wurden, und Luchita im Jahr 2020 an Julies fünfzigsten Geburtstag einhundert Jahre alt werden würde, filmte sie beide bei einem Gespräch am 3. Januar 2020 in Luchita Hurtados Wohnung in Santa Monica. Der Titel, in dem eine absichtliche Übertreibung mitklingt, täuscht über eine Situation hinweg, in der beide Frauen offen über das Leben und den Tod sprechen, über ihre Situation als Immigrantinnen in den Vereinigten Staaten, über Mutterschaft, Klimawandel und natürlich über die Malerei. Über die beiden hier gezeigten Arbeiten, Hurtados Gemälde im Stil ihrer Sky Skin-Serie, Mascara (1975) und Mehretus Hineni (E.3:4) (2018) wird im Film gesprochen.

Zwei lithografische Reihen, die Dean in den Werkstätten des Meisterdruckers Gemini G.E.L. in Los Angeles anfertigte, hängen an den umliegenden Wänden. Es handelt sich um LA Exuberance (2016) und um LA Magic Hour (2021). Die Drucke, die nicht von Fotos, sondern von Zeichnungen ausgehen, zeigen beispielhaft Deans Entzücken über den Himmel von Los Angeles bei ihrer Ankunft aus Europa. Neben ihnen hängen sechs kleine Zeichnungen auf Schiefertafeln, ebenfalls zum Thema des Himmels über Los Angeles.

In der kleinen Westgalerie wird Buon Fresco (2014) gezeigt, ein Film über Giottos (1266, Vespignano – 1337, Florenz) Fresken in der Oberkirche der Basilika San Francesco in Assisi. Gefilmt mit einem Makroobjektiv aus geringem Abstand ermöglicht der Blick der Kamera dem Betrachter einen besonderen Zugang zu Giottos Fresken und hebt die vorzüglichen Details und die malerische Meisterschaft des Künstlers hervor.

Biografie:
Tacita Dean (1965, Canterbury) hatte zuletzt Einzelausstellungen im Kunstmuseum Basel (2021), im EMMA – Espoo Museum für Moderne Kunst in Finnland (2020), in der Ny Carlsberg Glyptotek in Kopenhagen (2019), im Serralves Museum of Contemporary Art in Porto (2019) und im Kunsthaus Bregenz (2018). 2018 zeigte sie gleichzeitig die Ausstellungen LANDSCAPEPORTRAIT und STILL LIFE in der Royal Academy, der National Gallery und der National Portrait Gallery in London. 2011 stellte sie als Teil der Unilever Series die Arbeit FILM in der Tate Modern aus, die den Beginn ihrer Kampagne zum Schutz und Erhalt fotochemischer Filmverfahren markiert. Im Oktober 2021 wird das auf Dantes Göttlicher Komödie beruhende neue Ballettstück The Dante Project des Royal Ballet mit einer Choreografie von Wayne McGregor (1970, Stockport) und einem Bühnenbild sowie Kostümen von Tacita Dean unter der Leitung des Dirigenten und Komponisten Thomas Adès (1971, London) am Royal Opera House in London Premiere feiern. 2014–2015 war sie Artist in Residence am Getty Research Institute. Sie lebt und arbeitet in Berlin und Los Angeles.


Öffnungszeiten:
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Dienstag: geschlossen

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