Das Museum Sinclair-Haus widmet sich künstlerischen Auseinandersetzungen mit Wäldern. Um 1800 beginnt mit der Romantik ein Prozess, der bis heute andauert: Das Verständnis von Natur wandelt sich von einer instrumentellen Betrachtungsweise zu einer Sicht der Natur als Gegenüber mit eigenen Kräften, Räumen und Rechten. Diese Verschiebung führt zu einer Neuverortung des Menschen, der sich fortan zugleich als Teil der Natur und als distanziert-reflektierend zu ihr positioniert. Künstler:innen der Romantik wie auch der Gegenwart loten anhand von Wäldern Mensch-Natur-Verbindungen aus, denn sie stehen sinnbildlich für die Natur insgesamt. Die Künste eröffnen emotionale und spekulative Zugänge zu Wäldern und schaffen damit Räume für das Denken neuer Naturbeziehungen. Dazu Direktorin Kathrin Meyer: „Der Rückblick in die Romantik führt zu den Anfängen ökologischen Denkens. Künstler:innen damals und heute beschäftigen ähnliche Fragen: Wie können wir uns eine Natur begreiflich machen, die sowohl eigenständig als auch mit dem Menschen verbunden ist? Welche Konsequenzen hat es, Natur als Gegenüber zu begreifen? Wie können wir uns menschliche Verbindungen mit Wäldern vorstellen oder sogar sinnlich wahrnehmen? Welche Verantwortung haben Menschen Wäldern gegenüber? Das Vorrecht der Künste ist es, zu fragen und zu konfrontieren– die Antworten zu finden ist unser gemeinsamer gesellschaftlicher Auftrag.“
Drei Themeninseln sind im Museum Sinclair-Haus verortet: Die erste, „In die Wälder!“, zeigt Kunstwerke, Texte und kulturhistorische Objekte (etwa einen Wanderstock als Flöte), die literarisch, bildnerisch und musikalisch Verbindungen zu Wäldern herstellen. Das zweite Kapitel „Erdlebenbilder“ versammelt Waldimaginationen der Romantik und Gegenwart in den Medien Zeichnung, Malerei und Fotografie sowie in Form einer Datenvisualisierung. Auf je eigene Weise eröffnen sie sinnliche Zugänge zur nicht-menschlichen (oder mehr-als-menschlichen) Welt. Das dritte Kapitel „Waldangst – Waldlust“ beleuchtet zum einen die dunkle Seite der Waldfaszination in Märchen und zeitgenössischen Erzählungen. Zum anderen widmet es sich der Sorge um das Fortbestehen der Wälder vor dem Hintergrund ökologischer Krisen, hier insbesondere Waldbränden.
Die Romantik hat nicht nur ein neues Naturverständnis vertreten, sie hat auch Fantasie und Empfindsamkeit – im Verbund mit Wissen und Vernunft – gestärkt. Die Natur ist fortan ein nicht nur rational, sondern affektiv durchdrungener Raum. Diese gefühlsmäßige Hinwendung bringt auch die Frage mit sich, inwiefern Menschen für das Leben der Wälder verantwortlich sind. Die Ausstellung im Museum Sinclair-Haus lädt dazu ein, diese vielschichtigen kulturellen und ökologischen Facetten von Wäldern im Möglichkeitsraum der Künste zu entdecken.
„Wälder“ im Museum Sinclair-Haus – Einblicke
Der Ausstellungsrundgang beginnt im Erdgeschoss mit der Aufforderung „In die Wälder!“ Hier zeigt die Ausstellung eine Reihe von Arbeiten, die unterschiedliche Sinne ansprechen, wie bei einem Waldbesuch. Empfangen werden die Besuchenden mit Nachtigallengesang, begleitet unter anderem von Akkordeon, Cello und Gitarre. Der britische Folk-Sänger Sam Lee (*1980) besucht britische Wälder nicht nur, er musiziert auch mit den dort lebenden Nachtigallen. Damit steht er in einer romantischen Tradition, Wälder nicht nur auf Wegen zu durchqueren, sondern Kontakt zu ihnen aufzunehmen.
Wälder sind komplexe Ökosysteme, die aus dem Zusammenwirken von Lebewesen und Stoffen entstehen und sich dabei ständig verändern. Die Schriftstellerin Bettina von Arnim (1785–1859) schreibt sich buchstäblich in die Natur hinein, indem sie etwa schildert, wie sie sich körperlich mit Pflanzen verbunden fühlt. Ihre Texte stehen programmatisch am Anfang der Ausstellung, da sie neue Naturverhältnisse pointiert durchspielen.
In einem dieser Texte etabliert sie eine Verbindung zur Welt über den Atem – tatsächlich sind wir mit Pflanzen und so auch mit Waldbäumen ständig atmend verbunden, da wir den von Pflanzen produzierten Sauerstoff aufnehmen. Doch wir atmen nicht nur Sauerstoff, sondern auch Duftstoffe, flüchtige organische Teilchen (Volatile Organic Compounds = VOC), die zum Beispiel von Bäumen abgeben werden und zum für uns typischen Waldgeruch beitragen. Doch für die Bäume sind die Duftstoffe vor allem Kommunikationsmittel. Wie Menschen haben auch Bäume und Pflanzen ihren jeweils individuellen Geruch. Die Arbeit One Tree ID (2019) der Künstlerin Agnes Meyer-Brandis (*1973) verdichtet die Identität eines bestimmten Baumes zu einem komplexen Parfüm, das von Besucher:innen verwendet werden kann, um so das biochemische
Kommunikationssystem des Baumes sinnlich zu erleben. Für die ausgestellten Parfüms hat die Künstlerin mit einem professionellen Parfümeur zusammengearbeitet, der den an der Nase empfundenen Baumgeruch mit Maschinendaten abgleicht, um schließlich die einzigartige One Tree IDherzustellen. Dieses Parfüm können die Besuchenden der Ausstellung auftragen. So kann eine Person nicht nur Merkmale eines bestimmten Baumes unsichtbar tragen, sondern auch Teile seines Kommunikationssystems nutzen und möglicherweise mit einem anderen Baum eine Unterhaltung führen. Die Arbeit stellt zur Diskussion, wie wir unsere Sinne nutzen, um zu neuen Verknüpfungen und Interaktionen zwischen den Arten anzuregen.
Das zweite Kapitel „Erdlebenbilder“ widmet sich Bildwerken der Romantik und Gegenwart. Diese Bilder formulieren immer auch ein Verhältnis zu Wäldern, eine Frage oder eine bestimmte Sichtweise. Der Begriff „Erdlebenbilder“ geht zurück auf den Dresdner Arzt und Maler Carl Gustav Carus, der 1835 in seiner Schrift über Landschaftsmalerei ein neues Wort suchte, um die romantische Auseinandersetzung mit Natur abzusetzen von der traditionellen Landschaftsmalerei. Ein Erdlebenbild umfasst mehr als das Auge sehen kann: Es erfordert naturkundliches Wissen, integriert die Empfindungen der Künstler:innen sowie ihre Interpretation des beobachteten Naturraumes.
Einen Höhepunkt bildet eine Petersburger Hängung im zentralen Ausstellungraum im Erdgeschoss: Malereien der Romantik werden mit zeitgenössischen Fotografien in Austausch gebracht. Dies Seh-Experiment stellt einerseits die Frage nach dem Fortwirken romantischer Bildschöpfungen, andererseits gibt es Einblicke in den unabschließbaren Prozess, Mensch-Wald-Verhältnisse auszuhandeln. Besonders hervorzuheben ist unter anderem das Gemälde Sterbender Urwald nach dem Sturm (Urwald im Charakter der Telemark) aus dem Jahr 1851/52 von August Cappelen (1827–1852), vollendet nach dessen Tod von Johann Wilhelm Schirmer (1807–1863). Cappelen ist heute bekannt für seine urwüchsigen, mysteriösen und häufig von Verfall gekennzeichneten Waldlandschaften, die Leben und Sterben in den Blick rücken. Für das Leben von Wäldern kämpfen Aktivist:innen heute unter anderem im Hambacher Forst. Die Fotografin Sophie Reuter (*1994) ist selbst an den Protesten beteiligt. Reuters Arbeit erinnert mit ihrem Lichtspiel und der bildfüllenden Walddarstellung an das romantische „Waldinnere“, in dem der Wald im Mittelpunkt steht. Hier jedoch sind Zeichen menschlicher Anwesenheit zu sehen: Hütten und Transparente von Waldbesetzer:innen, die im Hambacher Forst gegen dessen Rodung für den Kohleabbau protestieren. Seit 2012 ist der Forst besetzt, mehrfach wurde er geräumt. Die Aktivist:innen verbinden sich mit dem Wald, indem sie ihn mit ihren Körpern schützen – und auf diese Weise auch sein Recht einfordern, fortzubestehen.
Im Obergeschoss werden mit Arbeiten von Abel Rodríguez (*ca. 1944) und Thomas Struth (*1954) zwei sehr unterschiedliche Perspektiven auf Wälder des globalen Südens gezeigt: Abel Rodríguez‘ botanische Zeichnungen entstehen aus einer animistischen Weltsicht heraus, in der alle Wesen den Status von Personen haben, seien es Pflanzen, Tiere oder Geister. Mogaje Guihu (westlicher Name Abel Rodríguez), der den Nonuya angehört, wurde im kolumbianischen Teil des Amazonasbeckens geboren. Sein umfangreiches Wissen über Pflanzen gab er als Führer in der Region auch an NGOs weiter, die dort die Flora erforschten. In den 1990er-Jahren floh er vor der Gewalt, die auch im Dschungel durch einen Bürgerkrieg zunahm, nach Bogotá. Er nannte sich nun Abel Rodríguez. Aus seinen Erinnerungen begann er, botanische Zeichnungen anzufertigen, die sein Wissen festhalten. Thomas Struthfotografierte für seine Werkgruppe New Pictures from Paradise (1998–2007) auch einen brasilianischen Urwald als zeitgenössisches „Waldinneres“ (ein häufiges Motiv der Romantik): menschenleer, ohne Horizontlinie füllt der Wald das Bild komplett aus. Der Titel der Werkgruppe wirft die Frage auf, was heute unsere Vorstellung vom Paradies ist und inwiefern Wälder dabei eine Rolle spielen.
Das Kapitel endet mit einer Datenvisualisierung, die den „Atem“ der Bäume sichtbar macht. Bäume produzieren nicht nur Sauerstoff, sie verströmen auch flüchtige Teilchen. Diese „Volatile Organic Compounds“ (VOC) erzeugen bei Nadelbäumen den für uns typischen Waldgeruch. Wissenschaftler:innen haben herausgefunden, dass Bäume unter Trockenstress stärker „atmen“, also mehr Duftstoffe ausstoßen als sonst. Welche Folgen das hat, ist noch nicht abzusehen. Die Arbeit Atmospheric Forest (2020) des Künstlerduos Rasa Smite & Raitis Smits (*1969/*1966) visualisiert Messungen zu VOCs und zur Harzproduktion, die in einem Freiland-Observatorium im Schweizer Pfynwald durchgeführt wurden. Durch Punktwolken, Farbe und Sound macht der visuelle Waldspaziergang Ereignisse in diesem Ökosystem erlebbar, die unseren Sinnen normalerweise verborgen bleiben. So gibt die Installation Einblick in die komplexen Beziehungen zwischen einem Wald, dem Klimawandel und der Atmosphäre.
Im dritten Kapitel „Waldangst – Waldlust“ steht die Angst vor der als selbständig begriffenen Natur im Mittelpunkt, wie sie in Mythen und Märchen bis heute verhandelt wird – etwa in Geschichten über Wesen, die menschliche Anteile in sich tragen, aber grundsätzlich anderer Natur sind. Vom „Eisenhans“ der Brüder Grimm oder die „Ents“ genannten Wesen in J. R. R. Tolkiens „Der Herr der Ringe“ bis zu dem Marvel-Comic „Groot“ geistern „wilde“ Männer oder Frauen durch die Vorstellungswelt, die eine unbegreifliche Naturkraft verkörpern. Der zweite Teil des Kapitels widmet sich der hochaktuellen Sorge, die Wälder im Klimawandel zu verlieren beziehungsweise zu erleben, wie sie sich verändern – und dabei nicht zu wissen, wie die Wälder der Zukunft aussehen werden. „Solastalgie“ bezeichnet das Gefühl, das wir beim Verlust vertrauter Naturräume empfinden.
Zwei Werke aus der Gegenwart widmen sich Waldbränden beziehungsweise dem, was sie für Mensch und Natur bedeuten. Julius von Bismarck (*1983) hat Brände in Deutschland, Schweden und Kalifornien fotografiert. Die Macht und Schönheit des Feuers verfremdete er durch axiale Spiegelungen. In diesen Verfremdungen von Waldbränden liegt auch die Frage: Was löst das Wissen in uns aus, dass unsere industrialisierte Lebensweise Ökosysteme direkt oder indirekt zerstört und ihr Schwund zum Aussterben von Arten führt – und damit zum Verlust von Schönheit und Vielfalt?
Eigens für die Ausstellung entstanden sind Landschaftsfotografien, die Thomas Wrede (*1963) in Brandenburg aufgenommen hat. Dort untersuchen Forscher:innen in einem Freilandlabor, wie Wälder sich nach Bränden unter verschiedenen Bedingungen regenerieren: Wie entsteht ein Waldökosystem, das trotz des Klimawandels widerstandsfähig bleibt? Fragen wie dieser widmet sich das Forschungsprojekt PYROPHOB („feuerabweisend“), an dem auch die Senckenberg Gesellschaft beteiligt ist. Wredes Fotografien sind Landschaftsbilder der Gegenwart: Sie zeigen einen Moment im Kreislauf des Lebens zwischen Zerstörung und Erneuerung.
Die Ausstellung endet mit der Video-Arbeit Le Sacre du Printemps (Tandvärkstallen) von Zheng Bo (*1974). Die Interaktionen von fünf Tanzenden mit den Waldpflanzen stellen unsere gängigen Vorstellungen der Koexistenz von Menschen und Wäldern buchstäblich auf den Kopf. Zhengs Arbeiten erproben neue Naturverhältnisse jenseits binärer Zuschreibungen, die etwa „Menschen“ und „Bäume“ kategorial voneinander trennen. Zheng inszeniert Möglichkeiten, einander zu begegnen, im Respekt der je individuellen, grundsätzlichen Andersheit. Damit ist das Video auch Ausdruck einer Suche nach neuen Ausdrucksformen für das Verständnis von Natur als Kontinuum, das unter allem anderen auch den Menschen umfasst. Diese Suche begann in der Romantik und wird sicherlich auch zukünftige Generationen weiterhin beschäftigen.
Künstler:innen im Museum Sinclair-Haus:
Yann Arthus-Bertrand, Julius von Bismarck, Carl Blechen, August Cappelen, Ellie Davies, Heinrich Dreber, Jasper Goodall, Wilhelm Klein, Carl Friedrich Lessing, Agnes Meyer-Brandis, Beth Moon, Loredana Nemes, Mariele Neudecker, Katina Vasileva Peeva, Friedrich Preller, Sophie Reuter, Abel Rodríguez, Johann Wilhelm Schirmer, Rasa Smite & Raitis Smits, Thomas Struth, Thomas Wrede, Zheng Bo
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