Die erste institutionelle Einzelausstellung der US-amerikanischen Malerin Christina Quarles in Deutschland präsentiert im Hamburger Bahnhof ihr bislang größtes ortsspezifisches Gemälde: die sechsteilige Leinwand ist an zwei Seiten geöffnet und so für die Besucher*innen begehbar. Neben dieser eigens für die Ausstellung entstandenen Arbeit werden zwölf vor allem großformatige Gemälde sowie einige Zeichnungen der in Los Angeles lebenden Künstlerin gezeigt, die in den letzten zehn Jahren entstanden sind. „Collapsed Time“ zeigt auch Werke aus der Sammlung der Nationalgalerie etwa von Daniel Buren, Nam June Paik oder Anette Kelm und stellt so Kunstformen von Fotografie und Skulptur bis hin zu Video und Performance gegenüber, die sich seit den 1960er-Jahren mit der räumlichen und psychologischen Eingrenzung des Menschen und deren Auswirkungen auf die Darstellung des Körpers befassen.

Die Ausstellung durchzieht eine Architektur von Gaze-Wänden, die die Räume in kleinere Segmente unterteilen. Dadurch entsteht eine starke Verbindung zwischen den Bildwelten, die in den Gemälden der Künstlerin auftauchen, und den Ausstellungsräumen selbst. Gaze ist ein Stoff, der in Theaterproduktionen verwendet wird, um Schauspieler*innen und Objekte zu verbergen und zu enthüllen. Je nachdem, wie der Stoff beleuchtet wird, kann er blickdicht oder transparent werden. Wie die Linien und Flächen, die die Figuren in Quarles’ Gemälden begrenzen, verdecken und durchschneiden, treten die ausgestellten Werke zwischen den Stoffkulissen hervor oder werden von ihnen verhüllt.

In ihren Gemälden und Zeichnungen beschäftigt sich Quarles mit der Erfahrung, in einem wie sie sagt rassifizierten, Queeren Körper zu leben und dass ihre Identität nicht eindeutig in feststehende Kategorien passt. Quarles wurde in eine Familie mit einem Schwarzen Vater und einer weißen Mutter geboren und wird selbst häufig fälschlicherweise als weiß wahrgenommen. Die Figuren, die Quarles malt und zeichnet verweigern die Grenzen eindeutiger Identitätszuschreibungen. Begierde, Sexualität und Geschlechtsidentifikation sind wichtige Bestandteile der Selbstdefinition. Intimität bedeutet für Quarles aber auch Familie, Trauer und der Schmerz, nicht so gesehen zu werden, wie man ist.

Physische und psychische Auswirkungen auf die menschliche Figur sind ein wichtiger Aspekt ihrer Kunst. Für ihre Ausstellung hat Quarles Werke von Absalon, Vito Acconci, Stanley Brouwn, Daniel Buren, Annette Kelm, Nam June Paik und Charlotte Posenenske aus den frühen 1960er- bis in die 2010er-Jahren aus der Sammlung der Nationalgalerieausgewählt, die sich visuell und konzeptionell mit diesen Fragen auseinandersetzen. In Quarles‘ Gemälden kämpfen die Figuren oft mit dem Interieur, das den von ihnen bewohnten Raum begrenzt. Es bleibt offen, ob sie sich freiwillig in diese Räume zurückgezogen haben oder in einen gefängnisartigen Ort gezwungen wurden.

Das Video „Solutions“ (1992) von Absalon zeigt den Künstler in einem weißen Innenraum, wie er die Möglichkeiten auslotet, die der begrenzte Raum seinem Körper biete. Es ist unklar, ob er eingesperrt wurde oder sich bewusst in die Selbstisolation begeben hat. Wiederholung und Mechanisierung sind auch wichtige Aspekte im malerischen Prozess von Quarles. Dieser beruht auf dem Muskelgedächtnis, das sie durch das wiederholte Zeichnen der menschlichen Figur erlangt hat.

Auch im bildhauerischen Werk von Charlotte Posenenske spielt Serialität eine wichtige Rolle. Quarles wählte für die Ausstellung die Skulptur „Vier verzinkte Elemente Serie D“ (1967), die aus zwei identischen Einheiten besteht, die in endlosen Anordnungen präsentiert werden können. Nebeneinandergestellt – eine auf dem Boden liegend, die andere aufrecht – bieten sie eine unerwartet körperähnliche visuelle Parallele zur Isolation und Verflechtung von Figuren, die in vielen von Quarles‘ Gemälden zu sehen sind.

Diese Gegenüberstellungen ermöglichen den Besucher*innen, die Sammlung der Nationalgalerie aus einer neuen Perspektive zu betrachten. „Christina Quarles. Collapsed Time“ stellt das Werk der Künstlerin einem neuen Publikum in Berlin vor. Quarles zeigt eine Welt, in der sich Körper jeden Begrenzungen eindeutiger Identitätszuweisungen verweigern. Damit stellt das Museum wichtige aktuelle Themen zur Diskussion und bekennt sich zu Inklusion und Diversität.

Begleitend zur Ausstellung erscheint eine zweisprachige Publikation (deutsch/englisch) mit einem Text der Kuratoren Sam Bardaouil und Till Fellrath, einem Interview mit Christina Quarles sowie einem Beitrag von Jillian Hernandez, Associate Professor am Center for Gender, Sexualities, and Women’s Studies Research der University of Florida, USA. Der Katalog ist der Auftakt zu einer Publikationsreihe zu Einzelausstellungen zeitgenössischer Kunst am Hamburger Bahnhof.


Öffnungszeiten:
Dienstag - Mittwoch: 10:00 - 18:00 Uhr
Donnerstag: 10:00 - 20:00 Uhr
Freitag: 10:00 - 18:00 Uhr
Samstag - Sonntag: 11:00 - 18:00 Uhr
Montag: geschlossen

Weitere Informationen direkt unter: smb.museum