Cemile Sahin (*1990, Wiesbaden) bewegt sich mit ihrer künstlerischen Praxis zwischen Film, Fotografie, Installation und Literatur. Thematisch beschäftigt sich die Künstlerin und Autorin mit weniger beachteten Geschichten über Kriege, Militarisierung, Überwachung und Kontrolle. Oft verschmelzen Vergangenheit und Gegenwart sowie verschiedene gesellschaftspolitische Ereignisse in ihren Werken. Den multimedialen Arbeiten von Sahin liegt dabei eine konzeptuelle Arbeitsweise zugrunde. Indem sie Bild- und Textmaterial aus verschiedenen Quellen kombiniert, darunter literarische Zitate, Internetvideos oder 3D-Animationen, verkörpern ihre Arbeiten die Gleichzeitigkeit von bild- und textbasierter Kommunikation. In der wissentlichen Nutzung dieser Prozesse finden ihre Arbeiten einen schwindelerregenden Rhythmus: Sie reißen mit, hin zu unerwarteten und manchmal unbequemen Erkenntnissen über Geschichtsschreibung und Kriegsführung.

Für den Nassauischen Kunstverein Wiesbaden entwickelt Cemile Sahin eine Rauminstallation mit dem Titel Gewehr im Schrank – Rifle in the closet, in der sie sich thematisch mit der historischen Entwicklung der Militarisierung westlicher Gesellschaften auseinandersetzt. Der Titel bezieht sich auf den Standard männlicher Eidgenossen, nach der Militärausbildung die Dienstwaffe mit nach Hause zu nehmen und im Schrank für den Ernstfall zu lagern. In der Folge ist die Schweiz das Land mit der höchsten Dichte an privaten gelagerten Waffen in Europa. Die Rauminstallation besteht aus einer Videoarbeit kombiniert mit Boden- und Wandcollagen und verwebt dabei unterschiedliche historische, politische, technische sowie digitale Aspekte der Militarisierung. Ausgangspunkt ihrer Recherche bilden zwei vor hundert Jahren abgeschlossene Verträge zur Neuordnung der Territorien des Osmanischen Reiches nach dem 1. Weltkrieg: der Vertrag von Sèvres (1920) und der Vertrag von Lausanne (1923), in denen unter anderem die aktuellen Landesgrenzen der modernen Türkischen Republik festgelegt wurden. 2023 feiert der Vertrag von Lausanne nicht nur sein hundertjähriges Bestehen, sondern die tragischen Folgen dieser willkürlichen Grenzziehung wirken sich bis heute in der Region aus. Mit Lausanne als Verhandlungsort historischer Waffenstillstandsvereinbarungen und Friedensverträge fokussiert Cemile Sahin den Hauptort des Kanton Waadt (Canton de Vaud) als wichtigsten Standort der Produktion von Kampfdrohnen.

Die Installation spinnt ein collagiertes Netz aus historischen und aktuellen Bezügen: Prominent findet sich das großformatige Zitat LIBERTÉ ET PARTRIE (Freiheit und Vaterland) aus dem Kantonswappen wieder, das mit aquarellierten Kriegsszenarien der Schweizer Armee des Amateurkünstlers und Hauptmanns Albert von Escher (1833-1905) kombiniert wird. Zudem werden Bildtafeln mit Motiven von Soldaten, Landschaften und Sturmgewehren innerhalb der Installation perspektivisch positioniert. Auf diesen sind Zitate aus dem 1958 erschienenen "Soldatenbuch" zu sehen, das bis 1974 allen Angehörigen der Schweizer Armee ausgehändigt wurde. Sie spiegeln Klischees, Normen und Verhaltenskodexe wider, die das Verständnis des Schweizer Militärs bis in die Gegenwart prägen. Das Palais de Rumine, in dem der Vertrag von Lausanne 1923 unterschrieben wurde, wird aus der Perspektive einer Drohne anvisiert, erscheint auf großformatigen 3D-Abbildungen an den Wänden. Sahin verweist hiermit auf die sich rasant ausbreitende Drohnen-Industrie in Lausanne, was der gesamten Region den Beinamen "Drone Valley" eingebracht hat - ohne dabei das internationale Image der Stadt als Ort wichtiger Friedensverhandlungen und -verträge in der kollektiven Wahrnehmung zu überschatten. Sahin reflektiert mit Gewehr im Schrank – Rifle in the closet Fragen nach der Rolle von Bild und Sprache im Krieg sowie den Konsequenzen der visuellen Repräsentation von Computerbildern zu militärstrategischen Zwecken. Die Vorstellung einer vermeintlich 'neutralen Schweiz' wirkt dabei beinahe zynisch.

Eine wesentliche Rolle in der Installation spielen die Schriftelemente, die neben ihren Inhalten den Eindruck der digitalen Immersion durch die 3D-Effekte verstärken. Die Schriften auf dem Boden zitieren die letzten beiden Strophen der Mitte des 19. Jahrhunderts als "Rütlischwur" bekannt gewordenen Eidformel ("Wir wollen trauen auf den höchsten Gott und uns nicht fürchten vor der Macht der Menschen.") aus Friedrich Schillers Wilhelm Tell (1804). Dieses Zitat als visuelle und inhaltliche Klammer der Ausstellung verweist auf die zum Nationalmythos der Schweiz gewordenen Gründungslegende samt pathetischem Unterton. Das Grid (Raster) auf dem Boden dient als Netz und greift die digitale Erfassung von Landschaft aus der Perspektive einer Drohne auf. Die Ästhetik simulierter Drohnenflüge lässt sich auch innerhalb des für die Ausstellung neu produzierten Films wiederfinden, der wie ein Überwachungsmonitor in den Raum ragt. Der Film bietet Einblicke in Simulationen des Schweizerischen Bundesamtes für Rüstung (armasuisse) und wechselt sich mit KI generierten Bildern und Stimmen ab. Die Suggestion einer virtuellen Atmosphäre ähnlich einem Computerspiel wird in den physisch realen (Ausstellungs-) Raum übertragen und simuliert visuelle Techniken moderner Kriegsführung.

Cemile Sahin (*1990, Wiesbaden) studierte Bildende Kunst am Central Saint Martins College of Art and Design in London und an der Universität der Künste in Berlin. Erstmalig wird ein Projekt von ihr im RheinMain Gebiet gezeigt, sie war bereits in zahlreichen internationalen Einzel- und Gruppenausstellungen zu sehen, so unter anderem auf der Lyon Biennale, in der Bundeskunsthalle Bonn und in der Kunsthalle Osnabrück (alle 2022), in der Akademie der Künste Berlin (2021), dem Kunstverein Hamburg (2020), der Galerie für Zeitgenössische Kunst Leipzig und dem NS Dokumentationszentrum München (beide 2019). Sie veröffentlichte die Romane TAXI (2019, Korbinian Verlag) sowie ALLE HUNDE STERBEN (2020, Aufbau Verlag), die ein wichtiger Bestandteil ihrer künstlerischen Praxis sind. Cemile Sahin war Stipendiatin der Jungen Akademie der Künste in Berlin (2019), ist arsviva-Preisträgerin für Bildende Kunst (2020) und Preisträgerin der Alfred Döblin-Medaille (2020). Cemile Sahin wird von Esther Schipper Berlin / Paris / Seoul vertreten.