In der Halle des Kunsthauses zeigt David Claerbout seine spektakuläre Videoinstallation Wildfire (2019-20). Sie fasziniert als detailliertes, synthetisches Feuerstillleben, in dessen Mittelpunkt der Brand eines Waldstücks steht. Im Gegensatz zur lebensbedrohlichen Gefahr, die von diesem Ereignis ausgeht, übt die digitale Darstellung des Feuers eine geradezu meditative Anziehungskraft aus, lädt zur Versenkung in den Bildgegenstand ein. Der hier aufkommende Widerspruch zwischen stiller Betrachtung und instinktivem Fluchtreflex gegenüber dem lodernden Flammeninferno entspricht der Erfahrung einer Dichotomie, die Claerbouts Gesamtwerk zugrunde liegt.
Claerbouts Themen und Motive kreisen immer um die simultane Existenz zweier stofflicher Zustände, die sich aufgrund ihrer gegensätzlichen Natur ausschließen. Diese unvereinbaren Daseinsformen dienen dem Künstler, um einer zentralen Frage nachzugehen: Was ist virtuell?
Die meisten Filme von Claerbout weisen virtuelle Merkmale auf. Obwohl sie von Fotografien ausgehen, stellt sich ein Eindruck ein, der über die bloße Betrachtung eines statischen Bildes hinausgeht und stattdessen von der intensiven Wahrnehmung verstreichender Zeit geprägt ist. Das mittels künstlicher Bildsynthese erzeugte Ereignis fällt so mit den Bedingungen des eigenen Daseins zusammen. Ob Fotografie, Computertechnologie oder virtuelle Realität - die eingesetzte Technik dient Claerbout lediglich als Mittel zum Zweck, um das Phänomen der Zeit zu veranschaulichen, es als plastische Erfahrung in einem räumlichen Gefüge greifbar zu machen.
Bäume sind ein häufig wiederkehrendes Motiv im Werk von Claerbout. Der Künstler fühlt sich zu diesen »Skulpturen der Natur« (Claerbout) immer wieder hingezogen, fasziniert von »ihrer darstellenden und choreographischen Eigenschaft«.
So tritt ein einzelner Baum als Protagonist im jüngsten Werk Claerbouts, Backwards Growing Tree (2023) auf. Der Künstler hat über fünf Jahre Wetterdaten des Standorts in der Landschaft bei Salsomaggiore Terme in der italienischen Provinz Parma gesammelt. Ausgehend von der erfassten Information ist eine künstliche Rekonstruktion des Wachstums des Baumes entstanden, in welcher die Zeit rückwärts läuft. Obwohl natürliche Vorgänge – etwa das Vorüberziehen der Wolken oder der Übergang von Tag zu Nacht – in der Darstellung nachvollziehbar werden, sind die Eindrücke irritierend. In seiner dem linearen Verlauf entgegengesetzten Entwicklung, kehrt der Baum letztlich zu seinem Ursprung zurück – im Nichts. Der Baum – als organisches Lebewesen und als künstlich generiertes Motiv – verschwindet von der Bildfläche und wirft Fragen nach den Bedingungen von Existenz in digitalen und analogen Bereichen auf.
David Claerbout (* 1969 in Kortrijk, BE) wurde mit großformatigen Multimediainstallationen weltweit bekannt, in denen er Computertechnologie zur Auseinandersetzung mit sinnlichen, zeitbasierten Erfahrungswerten nutzt. »Das Digitale interessiert mich, da es erscheinen und verschwinden kann. Es existiert zwischen den Welten.« (Claerbout). Angesichts des Täuschungspotenzials virtueller Bildwelten und ihren trügerischen Erscheinungsformen legt er die Opposition zwischen Wahrnehmung und Wirklichkeit, Schein und Sein offen.
Der in Antwerpen lebende David Claerbout markiert den Auftakt der neuen Ausstellungsreihe Trans Europa Express. Mit der Einladung von Künstler:innen jenseits der Grenzen verstärkt das Kunsthaus NRW den Austausch zwischen NRW und den europäischen Nachbarn.
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