Max Beckmanns Werk entsteht in einer von Krisen und Umbrüchen geprägten Welt und verwandelt diese Erfahrungen in eine bis heute faszinierende Bildsprache. Den intimsten Teil seines Œuvres bilden die Zeichnungen: Wie ein Tagebuch dokumentieren sie Beckmanns künstlerische Entwicklung und dienten ihm zugleich als Medium der Beobachtung, der Bildfindung, aber auch der Bild-Erfindung. Das Städel Museum rückt diese Arbeiten nun in den Mittelpunkt und präsentiert rund 80 Werke aus allen Schaffensphasen – von bislang wenig bekannten Blättern bis hin zu herausragenden Hauptwerken. Sie eröffnen einen direkten, intensiven Zugang zu Beckmann (1884–1950), einem der bedeutendsten Künstler der Moderne.

Das Städel Museum verfügt über einen der herausragendsten Beckmann-Bestände weltweit und widmet sich seit mehr als einem Jahrhundert der Sammlung, Erforschung und Vermittlung seines Werkes. 2021 erhielt das Museum durch wichtige Dauerleihgaben aus der Sammlung von Karin und Rüdiger Volhard bemerkenswerten Zuwachs. Zusammen mit der Veröffentlichung des dreibändigen Werkverzeichnisses der schwarz-weißen Zeichnungen Max Beckmanns im Hirmer Verlag – mit dem Hedda Finke und Stephan von Wiese eine der letzten großen Forschungslücken zu Beckmanns Zeichnungen geschlossen haben – ist dies der Anlass für die retrospektive Schau.

Den Grundstock der Ausstellung bilden Zeichnungen aus dem eigenen Bestand des Städel Museums, ergänzt durch Leihgaben renommierter internationaler Museen und Privatsammlungen, darunter das Museum of Modern Art in New York, das British Museum in London, das Art Institute of Chicago, das Kunstmuseum Basel, die Hamburger Kunsthalle, das Kupferstichkabinett der Staatlichen Museen zu Berlin und das Museum der bildenden Künste Leipzig. Einzelne Gemälde und Druckgrafiken eröffnen darüber hinaus Einblicke in Beckmanns Arbeitsprozess und das Wechselspiel verschiedener Medien.

Die Ausstellung wird durch die Förderung der Adolf Würth GmbH & Co. KG, der Dagmar-Westberg-Stiftung und des Städelschen Museums-Vereins e. V. ermöglicht und erfährt darüber hinaus Unterstützung durch die Franz Dieter und Michaela Kaldewei Kulturstiftung sowie Dr. Ina Petzschke-Lauermann.

Rundgang durch die Ausstellung
Die Ausstellung verfolgt in sechs Kapiteln Beckmanns eigenständige künstlerische Entwicklung von der frühen Berliner Zeit bis zu den letzten Lebensjahren in den USA. Ergänzend sind ausgewählte druckgrafische Blätter in einem eigenen Kabinett neben dem Beckmann-Saal in der Dauerausstellung der Moderne zu sehen.

Anfänge in Berlin
Seine ersten künstlerischen Erfolge erzielte Max Beckmann 1906 in der Ausstellung der Berliner Secession. Akademisch ausgebildet, entwickelte er einen Stil, der dem deutschen Impressionismus nahestand. Dies zeigt sich etwa in den sanften Schraffuren des Selbstporträts von 1912 oder in der atmosphärischen Abendlichen Straßenszene (1913?). Inhaltlich reizten ihn die großen Themen: In monumentalen Historiengemälden mit biblischen, mythologischen oder zeitgeschichtlichen Motiven verarbeitete er grundlegende menschliche Konflikte, etwa in dem Entwurf Elefantenschlacht (1908). Mit dem Aufkommen des Expressionismus und der wachsenden kritischen Resonanz auf seine Werke begann Beckmann, sich stärker mit persönlichen Erlebnissen auseinanderzusetzen. Dies zeigen die Skizzen zum Entwurf von Die Nacht (1912), die Szenen einer Gewalttat festhalten, von der Beckmann vermutlich selbst Zeuge war.

Der Künstler im Krieg
Zu Beginn des Ersten Weltkriegs meldete sich Max Beckmann – wie viele Künstler seiner Generation – freiwillig zum Sanitätsdienst in der Hoffnung, neue Impulse für sein Schaffen zu gewinnen. Auf frühere, bildhaft komponierte Werke, die das Grauen des Krieges in Ostpreußen zeigen, folgten in Flandern zunehmend reduzierte Zeichnungen, die den Alltag der Soldaten, das Leid der Verwundeten und die Zerstörungen des Krieges sachlich und knapp festhalten. Werke wie Verwundeter Soldat mit Kopfverband (1915) zeigen den Menschen mit schnellen, kantigen Strichen in seiner Verletzlichkeit, während Aufgebahrter Toter (1915) durch seine eindringliche Bildsprache mit starken perspektivischen Verkürzungen wirkt. Auch die beiden Bildnisse Prof. Ferdinand Sauerbruch (1915) und Selbstporträt beim Zeichnen (1915) spiegeln diesen formalen Wandel und deuten bereits auf die charakteristische Bildsprache der kommenden Jahre hin.

Noch im Dezember 1914 entstanden Entwürfe für das Gemälde Auferstehung (Staatsgalerie Stuttgart), das Beckmann 1915 in Straßburg beginnen, aber nie vollenden sollte. Es ist das einzige Ölbild, das Beckmanns Kriegserfahrungen unmittelbar reflektiert. Fernab jeder Hoffnung steigen Tote aus ihren Gräbern in eine zersplitterte Landschaft. Erstmals wird in der Ausstellung eine große Entwurfszeichnung zu diesem Schlüsselwerk präsentiert, die vor wenigen Jahren im Nachlass Mathilde Q. Beckmanns im Zuge der Arbeit am Werkverzeichnis entdeckt wurde.

„Operationsbasis“ Frankfurt am Main
1915 kam Max Beckmann nach Frankfurt am Main und fand Zuflucht in der Schweizer Straße 3 bei seinem Studienfreund Ugi Battenberg und dessen Frau Fridel, die er in der intimen Federzeichnung Das Schäferstündchen (1915) festhielt. Nach den Erfahrungen im Ersten Weltkrieg entstand in diesem geschützten Umfeld eine neue Bildsprache. Die Kompositionen sind durch reduzierte, flächenhafte Formen geprägt. Perspektivische Verzerrungen erzeugen Bewegung und Spannung und betonen das „Groteske“, das etwa in Drei Zuschauer vor einer Bühne (1917) sichtbar wird. Dieser Stilwandel wird besonders deutlich im lithografischen Zyklus Die Hölle von 1919, zugleich eine der sozialkritischsten Arbeiten Beckmanns der Frankfurter Jahre. In der Ausstellung sind eine erste Variante sowie die Umdruckzeichnung und die Lithografie des vorletzten Blatts dieses Zyklus zu sehen. Sie verdeutlichen die enge Wechselwirkung zwischen Druckgrafik und Zeichnung, aber auch die Verbindung zur Malerei, etwa im Selbstbildnis mit Sektglas (1919), einem Hauptwerk der Städel-Sammlung, in dem Beckmann sich als Beobachter einer aus den Fugen geratenen Welt inszeniert. Beckmanns Zeichnungen werden immer eigenständiger, zudem beginnt sich in den späten 1920er-Jahren die Formensprache zu klären, sei es in Werken wie Spiegel auf einer Staffelei (1926), Junge mit Hummer (1926) oder Quappi mit Kerze (1928). Das gilt auch für seine größte Landschaftszeichnung Rimini (1927), die bis zur Beschlagnahmeaktion „Entartete Kunst“ Teil der ersten Beckmann-Sammlung im Städel unter Direktor Georg Swarzenski war.

Zäsur Nationalsozialismus
Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 verlor Max Beckmann seine Lehrtätigkeit an der Frankfurter Kunstgewerbeschule, der heutigen Städelschule. Seine Werke wurden als „entartet“ diffamiert. Er zog sich in seine Arbeit zurück und schuf im Jahr 1933 eine Gruppe motivisch sehr unterschiedlicher Aquarelle. In der Ausstellung sind Der Mord (1933), Geschwister (1933/37) und Schlangenkönig und Hummerfrau (1933) zu sehen. Sie repräsentieren Beckmanns Schaffen dieser Jahre und zeigen die zunehmende Mythisierung sowie die geheimnisvolle Komplexität seiner Kompositionen.

Exil in Amsterdam
Vor dem Hintergrund der bedrohlichen politischen Entwicklung reisten Max und Mathilde Q. Beckmann 1937 nach Amsterdam. Der zunächst als Zwischenstation auf dem Weg nach Paris geplante Aufenthalt dauerte aufgrund des Zweiten Weltkriegs nahezu zehn Jahre. Beckmann erlebte diese Zeit als Exil, geprägt von existenziellen Ängsten und materieller Unsicherheit. Im Auftrag des Frankfurter Mäzens Georg Hartmann entstanden die sehr persönlichen Zeichnungen zu Goethes Faust. Der Tragödie zweiter Teil. Sie zählen zu den Hauptwerken der Amsterdamer Zeit und bildeten die Grundlage für Beckmanns weiteres zeichnerisches Schaffen. In den 143 Federzeichnungen, von denen vier Blätter in der Ausstellung zu sehen sind, setzte Beckmann sich mit weitreichenden Themen auseinander, darunter das Verhältnis der Geschlechter und die Auswirkungen des Krieges. Daneben entstanden bildmäßig komponierte Arbeiten wie Haltestelle (1945), die die Erfahrung von Isolation und Stillstand im Exil spiegeln, sowie Champagnerfantasie (Vergrößerungsglas) (1945), in der Beckmann sein Leibgetränk in einer surrealen Vision zu einer symbolischen Ursuppe des Menschen verwandelte.

Neuanfang in den USA
1947/48 gelang Max Beckmann ein Neuanfang in den Vereinigten Staaten. Unbeeindruckt von der wachsenden Abstraktion in der zeitgenössischen Kunst rang er weiterhin um eine lesbare Weltdeutung und blieb formal der Figuration verpflichtet. Selbstbildnis mit Fisch (1949) und Rodeo (1949) zählen zu den eindrücklichsten Kompositionen, die Beckmanns Auseinandersetzung mit seiner neuen Lebensumgebung spiegeln. Die Ausstellung schließt mit Backstage (Hinter der Bühne) (1950), einem der letzten unvollendeten Gemälde Beckmanns, sowie seiner letzten Zeichnung, dem Bildnis Georg Swarzenski (1950). Swarzenski hatte ab 1918 die bedeutende Beckmann-Sammlung im Städel Museum aufgebaut, die bis heute die Grundlage für die kontinuierliche Erforschung und Präsentation seines Werkes bildet.