Geboren wurde Huguette Caland 1931 in Beirut als einzige Tochter von Bechara El Khoury, dem ersten Präsidenten der Republik Libanon nach der Unabhängigkeit des Landes von Frankreich im Jahr 1943. Ihr Leben war von Anfang an politisch geprägt. Entsprechend intensiv verfolgte sie später von Paris aus den libanesischen Bürgerkrieg (1975–1990). Dorthin war sie 1970 gezogen, um, wie sie sagte, als Künstlerin »ihre Flügel auszubreiten«. Ab 1987 lebte sie im kalifornischen Venice. Alle drei Städte hinterließen tiefe Spuren in ihrer künstlerischen Praxis, die von feministischer Autonomie und sexueller Freiheit durchdrungen war – auch wenn sie selbst diese Begriffe nie verwendete. Als Künstlerin und Frau lehnte sie es ab, sich kategorisieren zu lassen. Den Konventionen in der Kunst begegnete sie mit derselben subversiven Verspieltheit wie den gesellschaftlichen Normen ihrer Zeit.

DIE AUSSTELLUNG: VON KÖRPERN UND LANDSCHAFTEN  
»A Life in a Few Lines« ist chronologisch aufgebaut und zeichnet Huguette Calands Leben und ihre künstlerische Entwicklung nach. Themen wie Körper, Erinnerung, Zugehörigkeit, Landschaft und Tod ziehen sich durch ihr gesamtes Schaffen, das zutiefst persönlich, dabei aber oft von entwaffnendem Witz geprägt ist. Huguette Caland entschloss sich erst spät – mit 33 Jahren –, Künstlerin zu werden. Ihre Kinder waren da schon Teenager, ihre Eltern verstorben. Davon erzählt das erste Kapitel der Ausstellung »Werden« mit ihrem ersten Gemälde, dem fast monochromen Red Sun/Cancer (1964), oder ihrem Selbstporträt Self Portrait in Smock (1992), das die Künstlerin fast dreißig Jahre später vor diesem früheren Werk zeigt.

Überraschend offen und humorvoll verhandeln in den folgenden Kapiteln die in Paris entstandenen Werkserien wie Flirt (1972) oder Homage to Pubic Hair (1992) Sexualität, Erotik und Körperlichkeit. Am bekanntesten ist die Serie Bribes de Corps aus den 1970er Jahren mit ihren zugleich abstrakten und äußerst sinnlichen Darstellungen von Augen, Mündern, Gesäßen, Schenkeln und anderen sich berührenden »Körperteilen«. Zur selben Zeit gestaltete Caland für den Pariser Designer Pierre Cardin eine Haute-Couture-Kollektion mit Kaftanen und Abayas. Schon in Beirut – als sie ihr Kunststudium aufnahm – hatte sie begonnen, frei fließende Gewänder für sich zu entwerfen, die arabische Mode-traditionen mit grafisch-spielerischen Textildesigns kombinierten.

Huguette Caland sprach fließend Arabisch, Französisch und Englisch und beschäftigte sich intensiv mit Sprache im Hinblick auf Identität und Kommunikation. In ihrer Kunst nahm dies unterschiedliche Gestalt an. Schon in den frühen Arbeiten – wie Cobra (1967) oder Exit(1970) – entwickelte sie ein eigenes Alphabet aus Kurven, Punkten, Formen und charakteristischen Linien mit Anklängen an die arabische Kalligrafie. Später entstanden Serien wie die Nude Letters (1991–1992), in denen sie Brieffragmente collagierte, oderSilent Letters (1999 bis 2006). Statt mit Worten füllte sie die Fläche mit Linien, zum Teil
mit einem großen Pinsel auf eine auf dem Boden liegende Papier- oder Leinwandfläche gemalt.

Landschaften, einzelne Orte und urbane Räume sind ein weiteres Leitmotiv, angefangen von Kaslik (1968) oder Venice (1985) bis hin zu den Cityscapes (1998–2005): Letztere bilden einen Übergang zu den großformatigen, teppichartig wirkenden Werken ihrer letzten Schaffensphase. An diesen arbeitete sie immer in Teilstücken auf ihrem Schoß, sodass sie sich erst nach und nach zu einem Ganzen zusammensetzten. Gegen Ende ihres Lebens scheint Caland die Welt aus einer universellen, viele unterschiedliche Sichtweisen vereinenden Perspektive zu betrachten.

WAS DIE AUSSTELLUNG AUSZEICHNET: EIN ANDERER HORIZONT
Die von der in Philadelphia lehrenden Kunsthistorikerin Hannah Feldman kuratierte Ausstellung veranschaulicht, wie Huguette Caland Kategorien, die die westliche Kunstgeschichte als getrennt betrachten will, in Bewegung bringt: die Grenzen zwischen Abstraktion und Figuration, Ästhetik und Kitsch, Figur und Hintergrund. Im Kontext ihres Gesamtwerks mit seinen vielfältigen interkulturellen Bezügen wird deutlich, dass ihre berühmten subtil bis explizit erotischen Arbeiten weit mehr sind als nur Ausdruck der sexuellen Befreiung der 1960er Jahre. Sie verbinden Körper, Worte und Formen auf poetische Weise, sie lösen Grenzen auf und erzählen Geschichten über Intimität und Freiheit, über Verbundenheit und Gemeinschaft und die komplexen Beziehungen zwischen Kunst und Leben. 

»Die Ausstellung zeigt, wie Huguette Caland sich im Dialog mit der Welt und den sie umgebenden Kulturen entfaltete. (…) So einzigartig und außergewöhnlich sie selbst und ihr Gesamtwerk waren, es gibt in ihren Arbeiten keine Singularitäten – sie zeichnen sich durch ihre Vielfältigkeit und Fluidität aus. Darin liegt nicht nur Calands größte ästhetische Leistung, sondern auch das visionäre politische Leitbild, das uns ihr Werk heute gibt.«
Hannah Feldman, Keith L. and Katherine Sachs Associate Professor of Contemporary Art History an der University of Pennsylvania und Kuratorin der Ausstellung
 
Mit rund 300 Werken aus internationalen Privatsammlungen und renommierten Institutionen – darunter eigens für die Deichtorhallen ergänzte Arbeiten aus dem Libanon – ist diese Retrospektive die erste umfassende Ausstellung Calands in Deutschland. Die Ausstellung wurde organisiert vom Museo Nacional Centro de Arte Reina Sofía, Madrid, in Zusammenarbeit mit den Deichtorhallen Hamburg. Im Anschluss wird sie im Hammer Museum in Los Angeles gezeigt. 

Huguette Caland (1931–2019) wuchs als Angehörige der kosmopolitisch geprägten Oberschicht auf. Ihr Vater, Bechara El Khoury, war der erste Präsident der unabhängigen Republik Libanon. 1964 begann sie ein Studium der Bildenden Kunst an der American University of Beirut. 1970 zog sie nach Paris, um sich ganz ihrer künstlerischen Entwicklung zu widmen. 1989 folgte der Umzug nach Kalifornien. 2013 kehrte sie nach Beirut zurück.Huguette Calands Werke sind heute in Sammlungen bedeutender Museen, etwa des SAMoCA, Centre Pompidou, des MoMA oder der Tate, vertreten.