Die Walther Collection zählt zu den weltweit renommiertesten Sammlungen globaler Fotografie. »Into the Unseen« ist die letzte große Präsentation der Sammlung in Europa, bevor 6.500 Werke als Schenkung an das Metropolitan Museum of Art nach New York gehen. »Into the Unseen« fordert die Besucher*innen auf, das Feld des Sichtbaren zu überschreiten, um das »Ungesehene« – das Mystische, Verdrängte oder Sich-Entziehende – erfahrbar zu machen und dabei die hörbaren, taktilen und emotionalen Register des Mediums zu aktivieren. Damit greift die multisensorisch inszenierte Ausstellung die philosophische und fototheoretische Kritik an der Dominanz des Sehsinns auf, um ein neues, umfassenderes Verständnis der Fotografie zu suchen – und dabei eine Poetik des Ungesehenen zu entwerfen.
»Into the Unseen« versammelt Werke berühmter Fotograf*innen und Künstler*innen wieCang Xin, Em’kal Eyongakpa, Rotimi Fani-Kayode, Santu Mofokeng, Eadweard Muybridge, Jo Ractliffe, RongRong, Berni Searle, und Yang Fudong, ergänzt durch eine neue Soundarbeit des Fotografen Felipe Romero Beltrán und einer neuen Fotoinstallation der Künstlerin und Forensikerin Ana María Gómez López.
Die von Nadine Isabelle Henrich, Kunsthistorikerin und Kuratorin des Hauses der Photographie, und Prof. Tina M. Campt, Historikerin und Roger S. Berlind Professor of Humanities an der Princeton University, kuratierte Ausstellung entstand in engem Dialog mit Artur Walther.
MULTISENSORISCHE SZENOGRAFIE: DAS UNGESEHENE ERKUNDEN
Das kuratorische Konzept der Ausstellung fragt, was Fotografie über das distanzierte Betrachten hinaus sein kann. Anstatt als neutrale Technologie der Darstellung wird Fotografie als Medium präsentiert, das sowohl Verbindung als auch Widerstand erzeugt. Auf diese Weise vermeidet es jede Vorstellung von Sehen als privilegiertem Sinnesregister und präsentiert es stattdessen als untrennbar verbunden mit einer multisensorischen Auseinandersetzung mit der Welt, in die wir eingebettet sind.
Im Gegensatz zu einer traditionellen White-Cube-Galerie führt das Ausstellungsdesign die Besucher*innen in dunkle Räume, in denen Bilder organisch schweben und die Wände einen subtilen Duft verströmen. Kleine architektonische Strukturen aus lokalem Douglasienholz schaffen intime Räume für die Betrachtung von Alltagsfotografien, wissenschaftlichen Studien und Familienalben. Das Holz wurde mit der traditionellen japanischen Yakisugi-Technik oberflächlich verbrannt, die ihm eine tiefschwarze, schimmernde Oberfläche mit einer ausgeprägten skulpturalen Maserung verleihen. Die Wahl der Wandfarben, Textilien und farbigen Decken hinterfragt die Fiktion des distanzierten Betrachtens, indem sie ein Gefühl der Einbettung erzeugt. Auf diese Weise verfolgt die Ausstellung selbst einen multisensorischen Ansatz – eine kuratorische Intervention, die das Erlebnis der Auseinandersetzung mit Kunst intensiviert, indem sie alle unsere Sinne aktiviert.
FREQUENZEN DER DUNKELHEIT
Bereits im ersten Raum verschiebt sich der Fokus von Belichtung und Sichtbarkeit hin zu Dunkelheit, Spiritualität und Schatten. Santu Mofokengs Chasing Shadows (1996–2014) betont die »Andersweltlichkeit« von Bildern, die die Grenze zwischen Dokumentation und Imagination verwischen, während sich Jo Ractliffe in ihrem Diana Archive (2004) mit der Spannung zwischen An- und Abwesenheit im Bild beschäftigt. Ihre mit Spielzeugkameras fotografierte Serie nutzt die Ästhetik von Schnappschüssen, um scheinbar zufällig gewählte Alltagsszenen in einer zeitlosen, lyrischen Textur einzufangen.
DEN ALLTAG IN DEN HÄNDEN HALTEN
Das zweite Ausstellungskapitel konzentriert sich auf das Fotoalbum als privates, greifbares Erinnerungsobjekt und als verkörperte Praxis des Sammelns, Ordnens und Ausstellens. Es hebt auch die institutionelle und archivarische Funktion des Albums hervor, insbesondere die berüchtigten »Tatortalben« des Pariser Kriminologen Alphonse Bertillon. Im Gegensatz dazu nutzt Santu Mofokeng in The Black Photo Album/Look at Me: 1890–1950 (1997) das Fotoalbum – präsentiert mit einem Kodak-Dia-Karussell mit Studioaufnahmen schwarzer Mittelklassefamilien in Südafrika –, um radikal andere Fragen zu stellen und unterdrückte subalterne Narrative aufzudecken.
DEM LAND ZUHÖREN
Durch Performance, Berührungen, Klang und Fotografie stellen die Werke im dritten Kapitel eine enge Verbindung zur Landschaft sowie den darin eingeschriebenen und verschlüsselten Geschichten her. Mit geisterhaften Figuren und tief gesättigten Bildflächen führt Ketoya Speaks (2016) von Em’kal Eyongakpa in den Südwesten Kameruns, ein Zentrum des Widerstands während der deutschen Kolonialherrschaft Anfang des 20. Jahrhunderts. Dem gegenüber fügt der Künstler und Dokumentarist David Goldblatt Oberflächen und ihre Spuren in ein umfassendes Porträt der südafrikanischen Gesellschaft zusammen.
FOTOGRAFISCHE SEDIMENTE
Das vierte Kapitel widmet sich dem Verlust, der Rettung und dem Nachleben von Bildern. Im Zentrum steht das von Munemasa Takahashi initiierte Lost & Found Project (2011). Nachdem ein schweres Erdbeben mit einem Tsunami 2011 die Ostküste Japans getroffen hatte, sammelte die Initiative Memory Salvage beschädigte Familienfotos, digitalisierte und restaurierte sie und gab sie ihren Besitzer*innen zurück. Takahashi nahm sich der Bilder an, die zu stark zerstört waren, um identifiziert und zurückgegeben zu werden, und schuf daraus ein kollektives visuelles Archiv. In »Into the Unseen« werden rund 1.600 dieser Fotos – erstmals auf diese eindringlich-poetische Weise – als schwebende Bildformation im Raum installiert.
SCHMECKEN, BERÜHREN, FÜHLEN
Das fünfte Kapitel erkundet die unmittelbare sinnliche Erfahrung als Zugang zur Welt. In seiner Communications Series No. 2 (1999) wählt Cang Xin – Mitglied des legendären Beijing East Village Collective – den Geschmackssinn als unmittelbare Verbindung mit dem Außen. Wie die kolumbianische Forensikerin und Künstlerin Ana Maria Gómez López, die sich in Inoculate (B semperflorens) (seit 2023) einem radikalen körperlichen Selbstexperiment unterzieht, testen auch Song Dong und RongRong die Grenzen sinnlicher Erkenntnis. Sie erforschen das Ungesehene, das im menschlichen Körper wohnt, und nutzen die Kamera als Portal für ihre Reisen und Überlegungen. Die eigens für die Ausstellung geschaffene Soundarbeit A Body That Speaks As A Bird (2025) des kolumbianischen Fotografen Felipe Romero Beltrán erzählt vom Verlust der von Naturgeräuschen durchsetzten indigenen Sprachen und lokalen Dialekte, die mit der Flucht der ländlichen Bevölkerung vor bewaffneten Konflikten und Landraub in die Städte einherging – und lässt zensierte ländliche Stimmen wieder erklingen.
ZEIT WAHRNEHMEN
Im Schlusskapitel zeigt Yang Fudongs sechskanalige Videoarbeit East of Que Village(2007) die Welt aus der Perspektive zurückgelassener Hunde, die durch verwaiste Dörfer ziehen. Mit langen Kameratakes entsteht eine eindringliche Stille, die nur kurz durch das über die Lautsprecher erklingende Rauschen des Windes, Hundebellen oder kaum hörbare Gespräche durchbrochen wird. Auf diese Weise konfrontiert uns das Werk mit einer dystopischen Beziehung zur Zeit aus der Perspektive einer Spezies, die mit den Folgen der Abwanderung des Menschen zu kämpfen hat.
THE WALTHER COLLECTION
Die Walther Collection wurde von Artur Walther gegründet, der die Sammlung größtenteils in Zusammenarbeit mit dem renommierten Kurator Okwui Enwezor aufgebaut hat. Im Jahr 2010 eröffnete Walther einen eigenen Museumscampus in Neu-Ulm und 2011 den Project Space im West Chelsea Arts Building in New York City. Die Walther Collection widmet sich dem kritischen Verständnis historischer und zeitgenössischer Fotografie und stützt sich dabei auf ihren umfangreichen Bestand an Fotografie und Medienkunst aus Afrika, China, Japan, Europa und Amerika sowie auf volkstümliche Bildersammlungen aus aller Welt. Im Mai 2025 kündigte die Sammlung eine bedeutende Schenkung an das Metropolitan Museum of Art in New York an. »Into the Unseen« ist die letzte große Präsentation der Sammlung in Europa.
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